17Vgl. § 78 SGB IX
2 Eingliederungshilfe und Pflege
Thomas Schmitt-Schäfer
Hinweis: Dieser Text ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung einer im April 2021 im Nachrichtendienst des Deutschen Vereins veröffentlichten Arbeit: »Wie lassen sich Leistungen der Eingliederungshilfe von den Leistungen zur Pflege abgrenzen«?
Die Abgrenzung der Leistungen der Eingliederungshilfe von den Leistungen zur Pflege – schon in der Vergangenheit nicht einfach – ist nach den Reformen des Pflegeversicherungsrechtes und des Bundesteilhabegesetzes noch schwieriger geworden (Rasch 2019; Zich et al. 2019, S. 68 ff). In der Praxis scheinen die Knäuel kaum lösbar, und auch die vielfältigen Erprobungen (Zich et al., 2019) und Untersuchungen (Deutscher Bundestag, 2020) haben bislang zumindest wenig Licht in die Sache gebracht. In der Regel werden die Leistungen (Eingliederungshilfe/Pflege) betrachtet; gesucht wird eine Grenze zwischen den beiden, die mitunter unkenntlich wird oder gar verschwindet wie im Falle der »optischen Leistungsidentität« (Kabsch, 2020), die vollends in die Verwirrung 18 führt.
Dem entgegengesetzt geht dieser Text davon aus, dass es Leistungen der Pflege wie auch Leistungen der Eingliederungshilfe gibt 19 und dass sie unterscheidbar sind. Die Unterscheidung liegt jedoch nicht in den Tätigkeiten oder den Verrichtungen, sondern auf der Ebene der Ziele und Zwecke. Das Anreichen der Seife kann beides sein, Eingliederungshilfe oder Pflege: Es kommt darauf an, was gewollt ist.
Leistungen zur Pflege sollen »Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht« (§ 2 Abs. 1 SGB XI).
Leistungen zur Teilhabe sollen »Selbstbestimmung und volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft fördern 20 , Benachteiligungen […] vermeiden oder ihnen entgegen[]wirken« (§ 1, Satz 1 SGB IX).
Übereinstimmendes Leitziel der beiden Leistungssysteme ist die Selbstbestimmung von Menschen mit Pflegebedürftigkeit und/oder Behinderung; sie stehen nebeneinander vereint im gemeinsamen Ziel, Selbstbestimmung als Ausdruck des Respektes vor der Würde des Menschen (Joussen, 2019, Rn 9) zu ermöglichen.
Erst auf der nächsten Stufe der Zielhierarchie gibt es Unterschiede in Zweck, Wirkungskreis und Interventionen:
• Leistungen zur Pflege wollen körperliche, geistige oder seelische Kräfte erhalten oder wiederherstellen; sie bedienen sich dazu aktivierender körperbezogener Pflegemaßnahmen, Betreuungsmaßnahmen und Hilfen bei der Haushaltsführung. 21
• Leistungen der Eingliederungshilfe wollen ein gleichberechtigtes, aktives, mitwirkendes »Dabei sein« in der Gesellschaft und damit eine individuelle Lebensführung ermöglichen oder doch zumindest erleichtern (§ 90 Abs. 1 SGB IX); hierzu kommen pädagogische Interventionen und allgemeine Hilfestellungen zum Tragen.
Leistungen zur Pflege sind wie Leistungen der Eingliederungshilfe Förderfaktoren in der Umwelt (Schuntermann, 2005) eines Menschen mit Beeinträchtigungen und Pflegebedürftigkeit, Leistungen zur Pflege tragen mittelbar zur Teilhabe bei, auch wenn dies nicht ihr unmittelbarer Zweck ist (Rasch, 2019, S. 84). Fehlen diese Leistungen, können Barrieren bestehen, die an einer gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hindern.
2.2 Feststellung des individuellen Bedarfs bei Pflegebedürftigkeit und Behinderung
Leistungen zur Pflege erhält, wer pflegebedürftig ist. Pflegebedürftig ist eine Person, die auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate »körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbstständig kompensieren oder bewältigen« (§ 14 Abs. 1 Satz 2 SGB XI) kann und deswegen auf die personale Hilfe anderer Personen angewiesen ist.
Zur Ermittlung von Pflegebedürftigkeit werden Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten in sechs Bereichen begutachtet (§ 14 Abs.2 SGB XI):
1. Mobilität,
2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten,
3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen,
4. Selbstversorgung,
5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen sowie
6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte.
Darüber hinaus sind bei der Begutachtung Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten in den Bereichen außerhäusliche Aktivitäten und Haushaltsführung festzustellen (§ 18 Abs. 5a Satz 3 Nummer 1,2 SGB XI), vor allem, um den individuellen Pflegeprozess besser planen zu können (Udsching, 2018). Beeinträchtigungen bei der Haushaltsführung werden von den Leistungen zur Pflege erfasst, Beeinträchtigungen außerhäuslicher Aktivitäten ohne häuslichen Bezug jedoch nicht (Wingenfeld und Büscher, 2017).
Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Menschen mit körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen, deren gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft infolge des Ergebnisses der Wechselwirkung von Umweltfaktoren (einstellungs- und umweltbedingten Barrieren) und Beeinträchtigungen erheblich bedroht oder gehindert ist (§ 2, Abs. 1 SGB IX in Vbg. mit § 99 SGB IX) und bei denen Teilhabeziele mit Leistungen voraussichtlich erreicht werden können (§ 13 Abs. 2 SGB IX).
In der Bedarfsermittlung in der Eingliederungshilfe ist die fehlende Fähigkeit zur Selbstständigkeit (Beeinträchtigung der Fähigkeiten) erste Voraussetzung für die Prüfung, ob durch eine Gestaltung von Umwelt (Variation von Umweltfaktoren (Schuntermann, 2005)) eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht oder erleichtert werden kann (§ 90 Abs 5 SGB IX). Gestaltung von Umwelt heißt: Hinzufügen von Förderfaktoren und/oder Beseitigung von Barrieren. Leistungen bei Pflegebedürftigkeit können Förderfaktoren sein.
D. h., der Bedarfsbegriff bei den Leistungen bei Pflegebedürftigkeit ist deutlich enger gefasst als der Bedarfsbegriff bei den Leistungen der Eingliederungshilfe. Dies zeigt auch eine nähere Befassung mit der Ermittlung des individuellen Hilfebedarfs nach § 118 SGB IX im Vergleich mit den sechs Bereichen nach § 14 SGB XI.
Tab. 2.1: Beeinträchtigung der Selbstständigkeit und Fähigkeiten (Pflegebedürftigkeit) und der Aktivität nach § 118 SGB IX
Beeinträchtigung der Selbstständigkeit und Fähigkeiten in Modul …… nach § 14 Abs. 2 SGB XISchädigung körperlicher Funktionen und Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit nach den Lebensbereichen der ICF
Die Gegenüberstellung beinhaltet auf beiden Seiten die Beschreibung der bedarfsbegründenden Beeinträchtigungen der Aktivität, d. h. Beeinträchtigungen der Fähigkeit, eine den jeweiligen Bereichen zugeordnete Handlung selbst ausführen zu können; gleichwohl gibt es Unterschiede:
Bei Pflegebedürftigkeit ist eine selbstständige Ausführung einer Handlung auch dann gegeben, wenn die einzelnen Aktivitäten mit der Anwendung oder dem Gebrauch von Hilfsmitteln durchführt werden können. »Dementsprechend liegt eine Beeinträchtigung von Selbstständigkeit nur vor, wenn personelle Hilfe erforderlich ist. Unter personeller Hilfe versteht man alle unterstützenden Handlungen, die eine Person benötigt, um die betreffenden Aktivitäten durchzuführen« (Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e. V. (MDS) und GKV-Spitzenverband, 2019, S. 36).
In der Eingliederungshilfe genügt es zur Feststellung eines Bedarfs, wenn zu der Beeinträchtigung der Aktivität noch die Beeinträchtigung der Teilhabe hinzutritt.
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