1 Welche Rolle spielt die Kita Pîya für den Erwerb des Kurmancî und des Deutschen?
Diese Frage wird in erster Linie vor dem Hintergrund der Kenntnis zu beantworten sein, welche Kinder zu Hause keinen plausiblen Zugang zu den untersuchten Sprachen haben und daher auf den Input in der Kita angewiesen sind und wie sie dadurch ihre Kompetenzen in der jeweiligen Sprache ausbauen.
Wenn auch zu Beginn mehr oder minder eindeutig war, welches Ziel mit welchen Forschungsfragen in der vorliegenden Studie verfolgt werden sollte, war die Aufstellung der Hypothesen – wie es ein Merkmal der explorativen Studien ist (vgl. Mayring 2010: 225) – nicht einfach. Dies lag daran, dass das Forschungsfeld neu war und es ungewiss war, welche Zusammenhänge und Wechselwirkungen in diesem neuen Feld überhaupt untersuchbar sind. Dennoch konnten, abgeleitet von Ergebnissen der Spracherwerbsforschung, flankiert von ersten informellen Gesprächen mit Eltern und Erzieher*innen sowie durch die ersten Eindrücke der teilnehmenden Beobachtungen in der Kita einige vorsichtige Hypothesen zu der spezifischen Erwerbkonstellation Kurmancî-Deutsch gebildet werden. Diese Hypothesen schärfen im Zusammenhang mit den Forschungsfragen den Blick für bestimmte Merkmale, Phänomene und Bereiche des untersuchten Gegenstandes (vgl. Grond 2018 für eine vergleichbare Vorgehensweise).
Die erste Hypotheseist, dass die bilingualen Kinder zwar in ihren beiden Sprachen eine ähnliche Erzählkompetenz auf der Makroebene – also bei der Wiedergabe der globalen Struktur – aufweisen werden (vgl. Gagarina et al. 2015), dies allerdings nicht, wenn der Zugang zu einer der Sprachen nicht über eine längere Zeit gegeben war. Denn das Erzählen einer Geschichte verlangt das Erreichen einer gewissen Schwelle der Sprachkompetenz (vgl. Bohnacker 2016: 24, siehe auch die Abschnitte 5.3 und 5.4). Jedoch ist nicht konkret ermittelt, nach welcher Dauer des Zuganges zu der jeweiligen Sprache die Erzählkompetenz eintritt. Für Sprachen wie Deutsch ist allerdings bekannt, dass erst am Ende des ersten Jahres des systematischen Zuganges, manchmal auch erst danach, die Grundstrukturen der Sprache durch die sukzessiven Erwerber*innen erworben werden, z.B. verschiedene Satzstrukturen (vgl. Ruberg/Rothweiler 2012, Schulz/Tracy 2011). Insofern ist für vier der sechs Studienkinder, die sukzessiv das Deutsche erwerben, anzunehmen, dass sich ihre Erzählkompetenz in dieser Sprache erst etwa ab dem Ende des ersten Jahres des systematischen Zuganges der Erzählkompetenz in Kurmancî etappenweise angleicht (für Erläuterungen zum Erwerbsbeginn sowie zur Erwerbsdauer der Studienkinder siehe die Übersicht im nächsten Abschnitt).
In Bezug auf den Zugang zu Kurmancî ist zu erwähnen, dass nur ein einziges Kind der Studie erst zu einem späteren Zeitpunkt – etwa mit eineinhalb Jahren – einen geregelteren Zugang zu Kurmancî bekommen hat (für genaue Informationen siehe den Abschnitt 6.3). Es ist allerdings schwierig, für dieses Kind eine Annahme darüber zu äußern, nach welcher Dauer des Zuganges es eine Erzählkompetenz in Kurmancî entwickeln und ab wann diese sich der in Deutsch angleichen wird. Denn anders als im Deutschen ist der Spracherwerb in Kurmancî nicht dokumentiert und damit einhergehend ist eine Grundlage für eine solche Annahme nicht gegeben. Daher kann für dieses Kind höchstens vermutet werden, dass es durch den geregelten Zugang im Laufe der Zeit eine Kurmancî-Kompetenz entwickelt. Mit voranschreitender Entwicklung ist zu erwarten, dass es Figuren, Objekte und einzelne Ereignisse der Geschichten benennt/beschreibt, diese mehr und mehr verknüpft und die Geschichten schließlich auch in Kurmancî erzählt. Wann dies jedoch geschieht, kann im Rahmen dieser Studie nicht definiert werden. Dazu wäre eine ausführliche Dokumentation des Spracherwerbs in Kurmancî vonnöten.
Die zweite Hypotheseist, dass die Studienkinder (abgesehen von einem Kind) in LiSe-DaZ, d. h. im Deutschen, niedrige Werte aufweisen werden. Der Grund dafür ist, dass den Werten von LiSe-DaZ die Annahme zugrunde liegt, dass Kinder mit Deutsch als Zweitsprache im Alter zwischen 25 und 48 Monaten in die Kita kommen und fortan einen systematischen Zugang zum Deutschen haben. Dieser Annahme nach sind die Werte ermittelt und Vergleichsgruppen nach Alter und Kontaktzeit gebildet (vgl. Schulz/Tracy 2011: 21). Vier der sechs Studienkinder kamen jedoch älter als 48 Monate in die Kita. Aufgrund dieser Tatsache konnten sie nicht immer mit ihrer tatsächlichen Gruppe, sondern mit der nächsten passenden Gruppe verglichen werden. Bei einem weiteren Kind werden Werte von Deutsch als Muttersprache (DaM) zugrunde gelegt, wobei es in seinen ersten Lebensjahren nicht die üblichen Erwerbsbedingungen eines DaM-Kindes hatte (für genaue Informationen siehe den Abschnitt 6.3).
Die dritte Hypotheseist, dass die Studienkinder hinsichtlich der Grammatik des Deutschen die meisten Schwierigkeiten nicht mit der Syntax, sondern mit der Morphologie haben werden (vgl. Kauschke 2012, Meisel 2009). Um genauer zu sein: Sie werden ihre größten Schwierigkeiten im Ausdruck der grammatischen Kategorien der Nominalphrase haben. Hier werden Kinder, die das Deutsche sukzessiv erwerben, auf mehr Schwierigkeiten stoßen. Denn in der Spracherwerbsforschung ist dokumentiert, dass der Erwerb der grammatischen Kategorien der Nominalphrase Kindern, und insbesondere sukzessiven Erwerber*innen, schwerfällt (vgl. Kaltenbacher/Klages 2007, Ruberg/Rothweiler 2012).
Wenn auch keine ausführliche Dokumentation zum Erwerb des Kurmancî vorliegt, so ist dennoch davon auszugehen, dass die Unterscheidung der Stammformen der Verben in Kurmancî zum frühen Spracherwerb gehört. Denn die grammatische Unterscheidung der Gegenwart und der Vergangenheit erfolgt über diese beiden Stammformen. Sobald also Kinder in ihren Äußerungen Gegenwart und Vergangenheit voneinander unterscheiden, müssen sie mit beiden Stammformen operieren. In diesem Zusammenhang geht aus der Studie von Mahalingappa hervor, dass kurdischsprachige Kinder, die im Osten der Türkei mit Kurmancî aufwachsen, ab einem Alter von etwa zwei bis zweieinhalb Jahren sowohl eine Tempusform der Gegenwart als auch eine der Vergangenheit nutzen und somit die beiden Stammformen anwenden (vgl. Mahalingappa 2009: 53ff.) Die vierte Hypotheselautet entsprechend, dass diese Unterscheidung der Stammformen den meisten Studienkindern gelingen wird, da sie zum Zeitpunkt der Erhebung im Erwerb des Kurmancî bereits fortgeschritten sind.
Die fünfte Hypothesebezieht sich darauf, dass das Kurmancî der meisten Studienkinder regionalen Unterschieden unterliegen wird. Denn das Kurmancî umfasst ein großes geografisches Gebiet, das auch größtenteils durch mehrere Staatsgrenzen geteilt ist. Des Weiteren ist seine Standardvarietät den meisten Sprecher*innen aufgrund soziopolitischer Rahmenbedingungen kaum verfügbar (vgl. Aygen 2007, Haig/Öpengin 2018).
Die sechste Hypotheseist, dass Studienkinder, die Kontakt zu einer dritten oder vierten Sprache haben bzw. hatten, diese Sprache(n) auch produktiv nutzen werden, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie ihre ersten beiden Sprachen Kurmancî und Deutsch. Bei der Kontextualisierung der dritten Forschungsfrage wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Lebenswelt der Kinder, die mit Kurmancî und Deutsch aufwachsen, in den meisten Fällen eine bzw. mehrere weitere Sprachen angehören. Die Studie von Şimşek (2016) geht auf diese Tatsache ein und ermittelt, dass die von ihr untersuchten Studienkinder über eine produktive Sprachkompetenz in der dritten Sprache – in dem Fall Türkisch – verfügen. Daran anknüpfend geht die vorliegende Studie von einer produktiven Sprachkompetenz in weiteren Sprachen neben Kurmancî und Deutsch aus, zu denen die untersuchten Kinder Zugang haben.
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