1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 So war nun Anton einmal auf einige Wochen in einer doppelten Lage glücklich: Aber wie bald wurde diese Glückseligkeit zerstört! Damit er sich seines Glücks nicht überheben sollte, waren ihm fürs Erste schon starke Demütigungen zubereitet.
[48]Denn ob er nun gleich in Gesellschaft gesitteter Kinder unterrichtet ward, so ließ ihn doch seine Mutter die Dienste der niedrigsten Magd verrichten.
Er musste Wasser tragen, Butter und Käse aus den Kramläden holen, und wie ein Weib mit dem Korbe im Arm auf den Markt gehen, um Esswaren einzukaufen.
Wie innig es ihn kränken musste, wenn alsdann einer seiner glücklichern Mitschüler hämisch lächelnd vor ihm vorbeiging, darf ich nicht erst sagen.
Doch dies verschmerzte er noch gerne gegen das Glück in eine lateinische Schule gehen zu dürfen, wo er nach zwei Monaten so weit gestiegen war, dass er nun an den Beschäftigungen des öbersten Tisches, oder der sogenannten vier Veteraner, mit teilnehmen konnte.
Um diese Zeit führte ihn auch sein Vater zum ersten Male zu einem äußerst merkwürdigen Manne in H[annover], der schon lange der Gegenstand seiner Gespräche gewesen war. Dieser Mann hieß Tischer, und war hundertundfünf Jahr alt.
Er hatte Theologie studiert, und war zuletzt Informator bei den Kindern eines reichen Kaufmanns in H[annover] gewesen, in dessen Hause er noch lebte, und von dem gegenwärtigen Besitzer desselben, der sein Eleve gewesen, und jetzt selber schon beinahe ein Greis geworden war, seinen Unterhalt bekam.
Seit seinem funfzigsten Jahre war er taub, und wer mit ihm sprechen wollte, musste beständig Dinte und Feder bei der Hand haben, und ihm seine Gedanken schriftlich aufsetzen, die er denn sehr vernehmlich und deutlich mündlich beantwortete.
Dabei konnte er noch im hundertundfünften Jahre sein [49]kleingedrucktes griechisches Testament ohne Brille lesen, und redete beständig sehr wahr und zusammenhängend, obgleich oft etwas leiser, oder lauter, als nötig war, weil er sich selber nicht hören konnte.
Im Hause war er nicht anders, als unter dem Namen, der alte Mann , bekannt. Man brachte ihm sein Essen, und sonstige Bequemlichkeiten, übrigens bekümmerte man sich nicht viel um ihn.
Eines Abends also, als Anton gerade bei seinem Donat saß, nahm ihn sein Vater bei der Hand und sagte: »Komm, jetzt will ich dich zu einem Manne führen, in dem du den heiligen Antonius, den heiligen Paulus, und den Erzvater Abraham wieder erblicken wirst.«
Und indem sie hingingen, bereitete ihn sein Vater immer noch auf das, was er nun bald sehen würde, vor.
Sie traten ins Haus. Antons Herz pochte.
Sie gingen über einen langen Hof hinaus, und stiegen eine kleine Windeltreppe hinauf, die sie in einen langen dunkeln Gang führte, worauf sie wieder eine andre Treppe hinauf-, und dann wieder einige Stufen hinabstiegen: Dies schienen Anton labyrinthische Gänge zu sein.
Endlich öffnete sich linker Hand eine kleine Aussicht, wo das Licht durch einige Fensterscheiben, erst von einem andern Fenster hineinfiel.
Es war schon im Winter, und die Türe auswendig mit Tuch behangen; Antons Vater eröffnete sie: es war in der Dämmerung, das Zimmer weitläuftig und groß, mit dunkeln Tapeten ausgeziert, und in der Mitte an einem Tische, worauf Bücher hin und her zerstreut lagen, saß der Greis auf einem Lehnsessel.
Er kam ihnen mit entblößtem Haupt entgegen.
[50]Das Alter hatte ihn nicht daniedergebückt, er war ein langer Mann, und sein Ansehn war groß und majestätisch. Die schneeweißen Locken zierten seine Schläfe, und aus seinen Augen blickte eine unnennbare sanfte Freundlichkeit hervor. Sie setzten sich.
Antons Vater schrieb ihm einiges auf. »Wir wollen beten«, fing der Greis nach einer Pause an, »und meinen kleinen Freund mit einschließen.«
Drauf entblößte er sein Haupt und kniete nieder, Antons Vater neben ihm zur rechten, und Anton zur linken Seite.
Freilich fand dieser nun alles, was ihm sein Vater gesagt hatte, mehr als zu wahr. Er glaubte wirklich neben einem der Apostel Christi zu knien, und sein Herz erhob sich zu einer hohen Andacht, als der Greis seine Hände ausbreitete, und mit wahrer Inbrunst sein Gebet anhub, das er bald mit lauter, bald mit leiserer Stimme fortsetzte.
Seine Worte waren, wie eines, der schon mit allen seinen Gedanken und Wünschen jenseit des Grabes ist, und den nur noch ein Zufall etwas länger, als er glaubte, diesseits verweilen lässt.
So waren auch alle seine Gedanken aus jenem Leben gleichsam herübergeholt, und sowie er betete, schien sich sein Auge und seine Stirne zu verklären.
Sie standen vom Gebet auf, und Anton betrachtete nun den alten Mann in seinem Herzen beinahe schon wie ein höheres, übermenschliches Wesen.
Und als er den Abend zu Hause kam, wollte er schlechterdings mit einigen seiner Mitschüler sich nicht auf einem kleinen Schlitten im Schnee herumfahren, weil ihm dies nun viel zu unheilig vorkam, und er den Tag dadurch zu entweihen glaubte.
[51]Sein Vater ließ ihn nun öfters zu diesem alten Manne gehen, und er brachte fast die ganze Zeit des Tages bei ihm zu, die er nicht in der Schule war.
Alsdann bediente er sich dessen Bibliothek, die größtenteils aus mystischen Büchern bestand, und las viele davon von Anfang bis zu Ende durch. Auch gab er dem alten Manne oft Rechenschaft von seinen Progressen im Lateinischen, und von den Ausarbeitungen bei seinem Schreibmeister. So brachte Anton ein paar Monate ganz ungewöhnlich glücklich zu.
Aber welch ein Donnerschlag war es für Anton, als ihm beinahe zu gleicher Zeit die schreckliche Ankündigung geschahe, dass noch mit diesem Monate seine lateinische Privatstunde aufhören, und er zugleich in eine andre Schreibschule geschickt werden solle.
Tränen und Bitten halfen nichts, der Ausspruch war getan. Vierzehn Tage wusste es Anton vorher, dass er die lateinische Schule verlassen sollte, und je höher er nun rückte, desto größer ward sein Schmerz.
Er griff also zu einem Mittel, sich den Abschied aus dieser Schule leichter zu machen, das man einem Knaben von seinem Alter kaum hätte zutrauen sollen. Anstatt, dass er sich bemühete, weiter heraufzukommen, tat er das Gegenteil, und sagte entweder mit Fleiß nicht, was er doch wusste, oder legte es auf andre Weise darauf an, täglich eine Stufe herunterzukommen, welches sich der Konrektor und seine Mitschüler nicht erklären konnten, und ihm oft ihre Verwunderung darüber bezeugten.
Anton allein wusste die Ursache davon, und trug seinen geheimen Kummer mit nach Hause und in die Schule. Jede Stufe, die er auf die Art freiwillig herunterstieg, kostete [52]ihm tausend Tränen, die er heimlich zu Hause vergoss; aber so bitter diese Arznei war, die er sich selbst verschrieb, so tat sie doch ihre Wirkung.
Er hatte es selber so veranstaltet, dass er gerade am letzten Tage der Unterste werden musste. Allein dies war ihm zu hart. Die Tränen standen ihm in den Augen, und er bat, man möchte ihn nur noch heute an seinem Orte sitzen lassen, morgen wolle er gern den untersten Platz einnehmen.
Jeder hatte Mitleiden mit ihm, und man ließ ihn sitzen. Den andern Tag war der Monat aus, und er kam nicht wieder.
Wie viel ihm diese freiwillige Aufopferung gekostet habe, lässt sich aus dem Eifer und der Mühe schließen, wodurch er sich jeden höhern Platz zu erwerben gesucht hatte.
Oft, wenn der Konrektor in seinem Schlafrocke aus dem Fenster sahe, und er vor ihm vorbeiging, dachte er, o könntest du doch dein Herz gegen diesen Mann ausschütten; aber dazu schien doch die Entfernung zwischen ihm und seinem Lehrer noch viel zu groß zu sein.
Bald darauf wurde er auch, ohngeachtet alles seines Flehens und Bittens, von seinem geliebten Schreibmeister getrennt.
Dieser hatte freilich einige Nachlässigkeit in Antons Schreib- und Rechenbuche passieren lassen, worüber sein Vater aufgebracht war.
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