1 ...7 8 9 11 12 13 ...41 Seht euch 1980 näher an. Als diese Begegnung mit Tore Olsen stattfand, hatte Norwegens staatliche Filmkontrolle soeben Life of Brian wegen des blasphemischen Inhalts verboten. Alfred Hitchcock stirbt. Barbra Streisand singt Woman in Love und Kate Bush singt Babooshka .
Jemanden herausnehmen. Jemanden hereinholen. Das war die Aufgabe der Kritiker. Ich schrieb nicht mehr so viele Rezensionen wie vorher. Außerdem machte ich einen Bogen um norwegische Musiker, mit wenigen Ausnahmen. Die eigentliche Schlussfolgerung war mir unbehaglich. Warum soll gerade die den Kritikern vorbehalten sein, wenn alle anderen Glieder in der Kette, Schriftsteller, Musiker, Produzent, Verleger wissen, dass kein Urteil über ein Kunstwerk absolut sein kann? Das Fragezeichen liegt immer näher an der Wahrheit als das Ausrufezeichen. Außerdem hat das Fragezeichen Ähnlichkeit mit einem F-Schlüssel.
Eines Tages werde ich mich zwingen, noch einmal alle meine alten Rezensionen zu lesen. Ich weiß, dass es mir furchtbar peinlich sein wird. Ich bin früheren Kritikern begegnet, die sich nicht einmal mehr daran erinnern können, was sie geschrieben haben. Wir kommen alle nicht ungeschoren davon. Ich weiß, dass ich oft bereuen werde, was ich in der Zeitung geschrieben habe. Öfter, als ich das bereuen werde, was ich in Romanen geschrieben habe. Ich werde nicht immer stolz sein, auch wenn ich nie die Schlachterschürze vorgebunden habe.
Jemanden hereinholen. Jemanden herausnehmen. Das klingt fast militärisch. Aber darauf basieren die heutigen Reality-Serien. Jemand muss entfernt werden. Verschwinden. Am Ende ist nur eine einzige Person übrig. Der Sieger oder die Siegerin. Jemanden verschwinden zu lassen bedeutet auf gut Norwegisch eigentlich: jemanden umbringen. Aber nichts ist eindeutig. In Libyen haben norwegische Jagdflieger viele Wochen lang Menschen verschwinden lassen, ohne auch nur zu wissen, was sie bombardierten. Das heißt, sie ließen sie nicht verschwinden, sie ließen sie einfach in einer Blutlache in der Wüste liegen, während sie ihr Tempo steigerten, hoch oben am Himmel, und zum nächsten Ort weiterflogen, wo sich jemand bewegte. Aber nach der Bombe im Regierungsviertel und dem Massaker auf Utøya sprachen wir nur über Gemeinschaft, darüber, dass jedes Leben unersetzlich ist. »Ist es nicht an der Zeit, dass wir anfangen, uns wie Menschen zu benehmen?«, fragte der Philosoph Arne Næss, als er sich anschickte, die Organisation Fremtiden i våre hender zu gründen. Nun zitierten wir Nordahl Grieg: »Still bewegt sich das glitzernde Band der Granaten. Haltet ihren Zug in den Tod an, haltet ihn mit Geist auf.« Musik ist Geist. Das hätten auf jeden Fall meine alten Lehrer an der Waldorfschule gesagt. Als uns die Ausmaße der Katastrophe aufzugehen begannen, und als die Zahlen der Toten von Utøya bekanntgegeben wurden, brachte der NRK die ganze Zeit Musik.
Musik ist immer die Rettung, wenn wir anfangen, über die Wörter zu stolpern.
Movitz liegt mit riesigen Wunden im Sessel von Hødnebø. Immer wieder leckt er sich die offenen roten Fleischflächen. Wir haben es aufgegeben, ihn zum Tierarzt zu schaffen. Nicht einmal ein Trichter um den Hals hindert ihn daran, seine Freiheit zurückzuerobern. Seine Methode ist: beißen, kratzen, reißen, kämpfen und danach lammfromm werden. An diesen Winterabenden nehme ich ihn oft auf den Schoß und denke, dass er es geschafft hat, seine Mutter zu schwängern, dass er das vielleicht noch mehrere Male tun wird, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Er wird zwischen meinen Händen auf meinem Schoß zu einem Kätzchen. Er schaut aus zusammengekniffenen Augen zu mir hoch, vertrauensvoll wie ein Kind. Weiß er, wie sehr ich über ihn bestimmen kann? Dass ich mit ihm zum Tierarzt gehen und um eine Giftspritze bitten kann? Aber das wollen wir doch nicht. Wir wollen ihn so lange wie möglich behalten. Viele der Liebkosungen, die wir einander geben, gehen über ihn. Wenn wir Movitz streicheln, streicheln wir uns gegenseitig und streicheln zugleich das Haus, in dem wir wohnen, das uns beschützt und einen Rahmen um unsere Leben zieht.
Eines Morgens liegt ein Brief im Briefkasten. Ich erkenne die Handschrift. Es ist die von Lill Lindfors. Keine andere schreibt so schön und frei, mit großen, verführerischen Schlingen, die doch immer scharf und zielgerichtet sind. Eine Frau, die ihrer selbst sicher ist und weiß, was sie will. Wenn ich nur auch so wäre.
An diesem Abend sitze ich neben der Anderen vor dem Kamin und zeige ihr den Brief. Er ist so persönlich und vertrauensvoll. Eine ganze LP, nur mit meinen Texten und Melodien. Aufnahmen schon im Mai in Stockholm.
»Selbstverständlich musst du das tun«, sagt die Andere.
Nichts ist selbstverständlich, denke ich.
Der Brief kam in einer Zeit der kreativen Auflösung. Keine neuen Ideen. Kein Wille. Nur das übergeordnete Ziel: Noch mehr abnehmen. Straff werden. Hart. Stark.
Ich antworte ihr, zitternd und bewegt. Eine Ehre. Eine große Möglichkeit. Ich weiß nicht, wie ich danken soll. Das Vertrauen, das sie mir erweist.
Ich werde also wieder Lieder schreiben. Hatte gedacht, ich würde einen Roman schreiben, aber der kann warten. In Lake Placid gewinnt der Schlittschuhläufer Eric Heiden aus den USA bei den Olympischen Spielen über alle Herrendistanzen. Ich sitze abends mit Tore zusammen und sehe mir diese wahnwitzige Degradierung an, die Schlittschuhnorwegen in die Verzweiflung treibt, bis Bjørg-Eva Jensen auf 3000 Meter Gold holt. An jedem Tag denke ich an den Sänger, der besser Elvis singen konnte als der Meister selbst. Jetzt liegt er im Krankenhaus und stirbt. Anne Lise hatte ihn besucht, als Freundin und als Vertreterin der Plattenfirma.
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«, hatte sie gefragt.
»Nichts«, hatte er geantwortet. »Ich wünschte nur, ich könnte leben, bis die Olympischen Spiele zu Ende sind.«
Sowie Anne Lise mir von diesem Gespräch erzählt hatte, verspürte ich eine neue und fast beängstigende Traurigkeit. War das Todesangst? Bei jedem neuen Lauf, bei jedem neuen Gold, näherte sich der Elvis-Junge weiter seinem Ende. Was, wenn er bis zur Abschlussfeier lebte? Und bis zur Zeit danach? Die doppelte Leere. Alle Geschehnisse waren erledigt, bei den Olympischen Spielen und in seinem Leben. Per Hansson, Oles alter Freund, hatte zwei Jahre zuvor darüber geschrieben, in Den siste veien , über den 22 Jahre alten krebskranken Ola, der wusste, dass er sterben würde, dem aber eine letzte Auslandsreise geschenkt wurde. Der Schmerz, als er nach Hause kam. Der Tod, der wartete. Ola sagte: »Worauf kann ich mich denn jetzt noch freuen?«
Es ist der Abend, an dem die Bohrinsel Alexander Kielland in der Nordsee umkippt. Ein wilder Sturm tobt. Die Bohrinsel wurde von der französischen Werft CFEM als Bohrinsel gebaut, aber die Reederei Stavanger Drilling II AS benutzt sie schon seit langer Zeit zum Wohnen. Eine Rohrleitung zum Meeresgrund hat es unmöglich gemacht, alle zehn Verankerungsstreben einzusetzen, die die französische Werft für die Verwendung in einem sturmreichen Meeresgebiet voraussetzt. Nur acht sind in Gebrauch. Plötzlich knickt ein Bein ab. Zwischen den Beinen C und D gibt es keine Streben wie zwischen den anderen Beinen. Dort sollte Platz geschaffen werden für die Versorgungsschiffe. Aber das D-Bein bricht. Ohne Vorwarnung kippt die riesige Konstruktion zur Seite und nur Sekunden später liegen die Ölarbeiter im Meer, sind in den Wellen vollkommen hilflos. Ein Hubschrauber ist fünf Minuten entfernt, doch dem wird der Befehl zum Umkehren erteilt. Ein Freund von mir ist an Bord. Schichtwechsel. Einige sollten die Bohrinsel verlassen. Andere sollten dort abgesetzt werden. Aber jetzt ist die Bohrinsel umgekippt. Im eiskalten Wasser kämpfen viele um ihr Leben. 123 von diesen Menschen finden den Tod.
Читать дальше