Hans Herrmann
Schwertmeister
Bonsai-Thriller aus dem alten Japan
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Hans Herrmann Schwertmeister Bonsai-Thriller aus dem alten Japan Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Reigando
2. Ein junger Mann in Miyamoto
3. Angst und Schrecken
4. Ein Kampf, der keiner ist
5. Berühmt und gefürchtet
6. Musashi möchte kneifen
7. Eine schwarze Gestalt
8. Auf eine Schale Tee
9. Ein Meer von Schirmen und ein Kreuz
10. Eine Stadt aus Stroh und Papier
11. Ein Ruder bekommt einen neuen Zweck
12. Kampf im Korridor
13. Musashi wirft sein Schwert weg
14. Das unendliche Nichts
Nachwort
Impressum neobooks
Sechzig Männer habe ich getötet, als ich ein junger Mann war. Heisst es. Sechzig Samurai, alle mit guten Katanas bewaffnet und in den Kampfkünsten trefflich geübt, während ich nur mit einem selbst geschnitzten Holzschwert zu fechten pflegte. Ich, Miyamoto Musashi, der herrenlose Samurai, der als umherziehender Ronin die besten Kämpfer im Reich der aufgehenden Sonne zum Zweikampf forderte und sie im Lauf der Jahre alle schlug. Heisst es.
Was ist Wahrheit? Das, was sich viele Menschen so lange erzählen, bis es allgemein als wahr anerkannt ist? Oder das, was sich ein Einzelner ausdenkt und so lange weitergibt, bis er es selber glaubt?
Wahrheit ist ein Schattenwesen, körperlos, nicht zu fassen und wandelbar. Ohne das Licht der Erkenntnis gibt es keine Wahrheit – aber die Wahrheit ist nicht das Licht der Erkenntnis, sondern die Schattenspur seiner Flammen.
Erkenntnis. Dem Sitzenden wird sie zuteil, nicht dem Eilenden, nicht dem Drängenden, nicht dem Wollenden. Ich sitze.
Ein alter, kranker Mann in seinem zweiundsechzigsten Lebensjahr, der sich vor dem Treiben der Welt in die Höhle Reigando bei der Stadt Kumamoto zurückgezogen hat. Hier verbringe ich stille Tage, blicke über die bewaldeten Hügel und versenke mich tief in mein Inneres, wie es Buddha gelehrt hat.
Manchmal esse ich einen kleinen Happen, den mir alle zwei, drei Tage ein Mönch vom nahen Kloster heraufbringt. Mehr brauche ich nicht. Den Durst lösche ich aus der kühlen und klaren Quelle, die ein paar Schritte neben meiner Höhle einer moosigen Spalte entspringt und sich in ein natürliches kleines Becken im Fels ergiesst.
Ich sitze. Sitze und lasse mein ganzes Leben an mir vorüberziehen. Und streife im Angesicht meines baldigen Todes endlich die grosse Lüge ab, die die Wahrheit über meine Person verstellte. Jene, die nach mir kommen, sollen die Wahrheit erfahren, sollen Wort für Wort lesen, dass ich nicht der war, den man aus mir gemacht hat und der ich zu sein vorgab. Ich war mitnichten ein grosser Schwertmeister. Ich war kein Ronin auf heiliger Kampfwanderschaft. Ich habe keine sechzig Samurai getötet. Nur einen – und mich dazu. Denn ist nicht der tot, der nicht ist, der er ist?
Deshalb schreibe ich die Geschichte meiner grossen Lüge auf, in Tusche und mit sorgfältigen Pinselstrichen, die mir als Kalligraf und Kunstmaler noch immer leicht aus der alten Hand fliessen.
Eine milde Sonne wärmt das Land im Monat Yatsuki des Jahres Kigen 2305. Nach der Rechnung der Jesuitenpriester, die noch vor dreissig, vierzig Jahren vielerorts auf unseren Inseln die abendländische Religion des Kirisuto verkündeten, ist es das Jahr 1645.
Über Nacht haben sich die Kirschblüten geöffnet.
Kirschblüten!
Zum letzten Mal ist es mir vergönnt, mein Auge an dieser Pracht zu weiden. Zum letzten Mal, denn ich fühle den Tod nahen. Bald wird der Lebensatem aus meinem Leib weichen, und Buddha Amida wird mein Selbst gnädig ins Land der Glückseligkeit geleiten.
Noch einmal die Kirschblüte sehen! Noch einmal dieses Naturwunder bestaunen und den Göttern des neuen Werdens danken! Ein Tanka fliegt mir zu, ein frischgeborenes Wortgebilde als kleiner und flüchtiger Gruss des Windes zum Frühlingsbeginn:
Wie mein Auge lacht!
Kirschblüten an den Zweigen
weiter als das Meer.
Freude und nichts als Freude
nistet nun in jedem Baum.
Aber bei diesen Zeilen soll der Pinsel nicht verweilen. Ich habe anderes aufzuschreiben und muss mich beeilen. Wie lange bleibt mir noch? Werde ich die Blüte der Bauernrose noch erleben? Oder gar das Zirpen der Grillen in lauen Sommernächten? Wohl kaum. Die Zeit drängt. Ich tauche den Pinsel ein und beginne mit der Niederschrift der grossen Lüge, die sich in Wahrheit auflösen möge.
So hört denn.
2. Ein junger Mann in Miyamoto
Meine ersten Kinderjahre verbrachte ich in einem kleinen Fischerdorf am Nordufer der Insel Honshu. Damals hörte ich noch auf den Namen Bennosuke. Die Menschen um mich herum waren so, wie Menschen sein sollten: einfach und ungehobelt, knorrig wie Stücke vom Wurzelholz, gesellig und von fröhlicher Unschuld. Man kann diesen Schlag nicht hoch genug schätzen.
Mein Vater war Fischer und Kleinbauer wie alle anderen im Dorf. Schon in frühesten Jahren erlernte ich den Umgang mit Boot und Netz, aber auch die Kunst des Reispflanzens und das Einspannen der starken Wasserbüffel.
An Kraft mangelte es auch mir selber nicht; früh schoss ich in die Höhe und setzte Muskeln an. Bereits als Zwölfjähriger konnte ich es beim Ringen mit jedem erwachsenen Dorfbewohner aufnehmen, und als Erwachsener war ich jederzeit und überall einen Kopf grösser als die grössten meiner Zeitgenossen.
Fischer wollte ich nicht werden, auch zum Beackern der Reisfelder verspürte ich keine Neigung. Deshalb bat ich meinen Vater, zum Kalligrafen Kazuaki in die Lehre gehen zu dürfen. Mein Vater hatte keine Einwände, denn erstens stand für die Übernahme von Haus und Hof ein jüngerer Bruder bereit, und zweitens haftete dem Beruf des Schönschreibers ein heiliger Glanz an, dem sich auch die künstlerisch unbedarfte Natur meines Vaters nicht ganz und gar verschliessen konnte.
Also zog ich drei Tage nach meinem dreizehnten Geburtstag mit Billigung meiner guten Eltern los, um mich bei Meister Kazuaki vorzustellen. Er fand an meiner geschickten Hand Gefallen – und vielleicht ebenso an meiner Grösse und Kraft, denn der Meister war bejahrt und gebrechlich, und in jenen unruhigen Zeiten war es für einen alten Mann ganz gut, einen jungen Beschützer um sich zu wissen, vor allem, wenn das Haus ein kalligrafisches Lebenswerk von fast unbezahlbarem Wert enthielt.
Fortan also lebte und lernte ich unter meinem Jünglingsnamen Harunobu im Bauern- und Handwerkerdorf Miyamoto, das sich von meinem Heimatdorf nur darin unterschied, dass es nicht ans Meer grenzte. Die Häuser, Felder und Gärten waren dieselben wie im Ort meiner Kindheit und die Menschen ebenso ungeschliffen.
Mein Meister hingegen war feinsinnig und milde. Mit unversiegbarer Geduld unterwies er mich in seinem Handwerk und führte mich Schritt für Schritt in dessen Geheimnisse ein. Ich lernte, dass Schönschreiben nicht Kunst, sondern Meditation ist und nur von dem würdig ausgeübt werden kann, der sich mit all seinem Sinnen und Trachten darauf konzentriert.
„Man soll seine Arbeiten gründlich erledigen“, pflegte mein Meister zu sagen. Und: „Man soll nichts auf die leichte Schulter nehmen.“
Diese einfachen, aber tiefen Worte beherzigend, wurde ich nach und nach ein Könner im Umgang mit Bambuspinsel, Tusche und Reispapier; die Schriftzeichen flossen mir geschmeidig aus der Hand entfalteten auf der weissen Fläche ein Eigenleben wie Zierfische im Teich.
Meister Kazuaki war zufrieden mit mir.
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