Kapitel 9
Bevor Tessa etwas erwidern konnte, war Mandy wieder von ihr abgerückt. »Du hast dich verändert, Mandy«, bemerkte Tessa.
»Ich weiß. Ist das nicht toll?«
Tessa schüttelte den Kopf. »Ich finde das gar nicht toll, tut mir leid. Ist in dir noch etwas von der alten Mandy? Meiner besten Freundin? Du wirkst auf mich nicht mehr herzlich, vertrauenswürdig, lieb und nett. Nein, du wirkst herablassend.« Mandy schnaubte und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach komm schon, Tess. Ich wusste nicht, wie wunderbar das alles ist. Anzuziehen, was man will. Aufzustehen und einfach gut auszusehen. Keine Pickel mehr, keine kneifenden Hosen oder Pullover, in denen man aussieht wie eine Witzfigur. Du weißt nur nicht, wie das ist. Aber, wenn du es wüsstest«, sie kam wieder näher, strich Tessa über das glanzlose Haar, ihre fettige Stirn, kniff sogar in die dicke Wange, als wäre sie ihre Oma, »würdest du ganz genauso auf andere herabsehen. Glaub mir das.«
Tessa wich ihr aus. »Da du ja jetzt zu den Schönen und Reichen gehörst, kann ich ja gehen«, gab sie schnippisch zurück. Ihr Blick fiel auf Sindbad, der gelangweilt in einer Zeitschrift rumblätterte, die langen, muskulösen Beine von sich gestreckt. Trotzig reckte sie das Kinn hervor, wandte sich wieder Mandy zu, deren Lippen sich zu einem falschen Lächeln kräuselten. »Warum willst du denn gehen, Tessa? Lass uns doch ein bisschen Spaß haben.« Ihre Stimme klang schmierig und ölig. Tessas Blick huschte zum Fahrstuhl, dessen Türen sich längst wieder geschlossen hatten. »Mir ist nicht nach Spaß haben, Mandy. Ich will nach Hause. Hatte nen Scheißtag.«
»Möchtest du nicht auch gerne anders aussehen? Schöner? Schlanker? Weißt du nicht mehr, wie wir uns erträumt haben, anders auszusehen?«, fragte Mandy. Tessa seufzte genervt und machte einen Schritt auf den Fahrstuhl zu. »Hör mal, Mandy. Ich hab doch gerade gesagt, dass ich keine Lust habe. Ich will heim.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, zischte ihre Freundin. »Nein, Mandy. Ich will nicht so sein. Ich bin wie ich bin und ich bin, bis auf die Ausnahme von heute, zufrieden mit mir. Ich muss nicht schauspielern, verstehst du? Abgesehen davon habe ich den Eindruck, ich müsste einen zu hohen Preis zahlen, wenn ich mir dich so ansehe.« Tessa machte eine kurze Pause. »Weißt du denn gar nicht mehr, was wir uns geschworen haben? Nie so zu sein wie die, die uns immer hänseln und mobben? Wir gegen den Rest?« Mandy lachte schallend und jetzt wurde Tessa echt wütend. Sie ging einen Schritt auf ihre Freundin zu, hob die Hand und wollte ihr ins Gesicht schlagen, doch Mandy war schneller und fing sie in der Luft ab, griff fest zu an ihrem Handgelenk, so dass es schmerzte, zog sie an sich, legte den Kopf schief. »Wolltest du mich etwa schlagen?«
»Sag mal, spinnst du? Lass los, das tut scheißweh.« Tessa versuchte, ihre Hand aus dem Griff zu befreien, doch je mehr sie zog, desto enger schlossen sich Mandys Finger. Als sie ihr ins Gesicht sah, schrak sie zusammen. Ihr Herz pochte gegen die Brust. Nicht nur ihre Augenfarbe hatte sich verändert. Kleine, feine Härchen wuchsen auf ihren Wangen, die Nase verformte sich vor ihren Augen. Ihr Atem stank plötzlich erbärmlich und lenkte ihren Blick auf den Mund, der sich ebenfalls veränderte. Mit ihrer freien Hand schlug Tessa auf Mandy ein, trat mit dem Fuß gegen ihr Schienbein, aber nicht mal ein Zucken durchfuhr den Körper ihrer Freundin. »Mir reicht’s, Tess. Wenn ich dich zu deinem Glück zwingen muss, tu ich das eben.« Die letzten Worte kamen jaulend aus ihrem Mund … Maul. Tessa sah an ihrer Freundin hinab. Wie sie sich vor ihren Augen veränderte. Panik stieg in Tessa auf. »Was zur Hölle? Du hast … du bist … oh Gott, was bist du?« Mandy gab ihr keine Antwort mehr. Ihr heißer Atem schlug ihr ins Gesicht, Speichel tropfte auf Tessas Hand, als sich diese Kreatur nach vorne beugte und eine Doppelreihe messerscharfer Zähne zeigte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, ihr würde ein glühend heißes Eisen in die Schulter gerammt. Sie hörte einen lauten Schrei und stellte fest, dass es ihr eigener sein musste, ihre Knie gaben nach und ihr wurde schwarz vor Augen.
***
Mandys Zähne gruben sich in das weiche, warme Fleisch ihrer Freundin. Hunger übermannte sie, als ihr metallisch schmeckendes Blut ins Maul floss. Tessas Schreie hörte sie nur dumpf. Mandy musste sich zurückhalten, sie nicht mit Haut und Haar zu verschlingen. Sie zog sich von ihr zurück, ließ ihre Freundin unsanft auf dem Boden aufkommen und sprang mit einem großen Satz durch das halbe Penthouse, um Abstand zu gewinnen. Tessa hatte süß geschmeckt, wie eine Frucht, die in einem warmen Schokobrunnen gebadet worden war. Ihre Wölfin kämpfte, wollte sich vollends wandeln und weiterfressen, doch Mandy konnte sich durchsetzen. Sie streckte sich, konzentrierte sich und versuchte sich von dem Geruch abzuwenden, den das Blut verströmte, aber er umwehte ihre Nase wie ein wundervolles Parfum. Hinter sich hörte sie Sindbad, der sich um Tessa kümmerte. Nachdem sie sich wieder zurückverwandelt hatte, drehte sie sich rasch um, durchquert mit wenigen Schritten den Raum und stieß Sindbad, der neben Tessa auf dem Boden kniete, fort. »Lass sie. Fass sie nicht an.«
»Ich wollte ihr nichts tun. Hab mir schon gedacht, dass du sie wandeln willst.«
»Geh weg. Setz dich wieder auf die Couch und mach was auch immer«, knurrte sie, kniete sich hinab, legte Tessas Kopf auf ihren Oberschenkel und streichelte ihr über das Haar. Ihr Gift strömte bereits durch Tessas Körper, denn ihre Wunde hatte aufgehört zu bluten, die Hautfarbe wechselte von blass zu rosa. Pölsterchen verschwanden auf wundersame Weise und ihr Haar fiel weich und glänzend über Mandys Arm. »Du wirst dich wunderbar fühlen, glaub mir«, flüsterte Mandy an Tessas Ohr, schob ihre Arme unter ihren Rücken und hob sie hoch, um sie auf die Couch zu legen. »Du passt auf sie auf. Ich hab noch was zu erledigen«, wandte sie sich nun in kaltem Tonfall an Sindbad. »Ich dachte, ich soll sie nicht anfassen?«, sagte er aufsässig. »Ja. Sollst du auch immer noch nicht. Du sollst auf sie aufpassen. Sie wird sicher verwirrt sein, wenn sie aufwacht.« Er war manchmal so schwer von Begriff. Konnten Männer nicht schön und intelligent sein, so wie sie? »Halt sie hier fest. Wenn sie fliehen will, verhindere es«, befahl sie, strich sich durchs Haar, über die Kleidung und hielt ihm die Hand hin. »Gib mir den Schlüssel für den Wagen.« Sindbad stand auf und zog einen silbrig glänzenden Schlüssel aus der hinteren Hosentasche. »Brauchst du Geld?«, fragte er, wartete ihre Antwort aber nicht ab, sondern zog ein Bündel Scheine aus der anderen Tasche und drückte es ihr ebenfalls in die Hand.
»Firma dankt. Bis später.«
Mandy fuhr mit dem Panamera durch das dunkle London zurück zu dem Pub, wo sie Tessa aufgegabelt hatte. Sie wusste, dass ihre ehemaligen Kollegen hier regelmäßig ihre After Work Partys veranstalteten. Mandy und Tessa waren nie eingeladen worden. Natürlich nicht. Wer wollte auch schon mit dicken, hässlichen Mädchen gesehen werden? Die anderen waren ja alle cool. Nicht so cool wie ich jetzt, dachte sie, während sie den Wagen auf einen Bordstein rollte, den Motor abstellte und sich noch einmal prüfend im Spiegel ansah. Ihre Wangen waren leicht gerötet, sie pinselte sich noch etwas Lipgloss auf die vollen Lippen, wuschelte sich durchs Haar und lächelte sich selbst an. Es würde sicherlich ein schöner Abend werden. Mandy freute sich schon auf ihre ehemaligen Kolleginnen. Aber ganz besonders freute sie sich auf Ronny. Den armseligen Billig-Playboy, der sie verarscht und gemobbt hatte und ihr nächtelang Tränen beschert hatte. Aus heutiger Sicht war Ronny ein Nichts, ein Niemand. Ein hässlicher Gnom, der sich selbst sexy fand. Heute würde sie ihm zeigen, wer sexy war. Mit ihrer Latexhose, die tief auf der Hüfte saß, der engen Korsage, die ihre Brüste nach oben schob, und den hohen Pumps wusste sie, dass sie gut aussah. Mehr als das. Sie fiel damit genau in Ronnys Beuteschema. Nur noch wenig erinnerte an die alte Mandy. Vermutlich würde er sie nicht mal erkennen. Genauer angesehen hatte er sie ohnehin nie. Mandy stolzierte wie ein Model über den Gehweg und schlängelte sich an den Rauchern vorbei, die sich unter einem Heizpilz versammelt hatten. Ihre Gespräche verstummten. Sie spürte die neidischen Blicke der Frauen auf sich und die sehnsüchtigen der Männer. Doch ihre Beute befand sich im Inneren des Pubs. Ihr Blick schweifte durch den Pub und sie fand ihre ehemaligen Kollegen an einem runden Stehtisch, laut lachend, trinkend, feiernd. Mandy postierte sich an einen Betonpfeiler und schielte hinüber, warf ihr Haar zurück. Als sie seinen Blick auf sich spürte, streckte sie den Po etwas raus, schob die Unterlippe vor, um ihre Lippen noch voller wirken zu lassen. Wie zufällig drehte sie den Kopf in seine Richtung. Ihre Augen fanden seinen Blick. Tatsächlich war es Ronny, der sie unverhohlen anglotzte. Ihre Lippen teilten sich zu einem gespielt verlegenen Lächeln. Es dauerte keine fünf Minuten, da bewegte sich Ronny vom Tisch weg und kam auf sie zu. Mandy musste sich zusammenreißen, um nicht siegessicher zu grinsen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an den Pfeiler, und als er bei ihr ankam, senkte sie den Kopf.
Читать дальше