"Mir wird kalt, lasst uns nach Hause gehen," meinte die Mutter schließlich und wandte sich zum Gehen, "ein heißer Tee wäre jetzt gut."
Der Herd in der heimischen Küche barg noch genug Glut, um das Feuer neu zu entfachen, so dass der wärmende Kräutertee für alle schnell bereitet war und ihre klammen Finger wieder auftauen konnten.
Der Vater hatte sich inzwischen erhoben und war in den Flur verschwunden. Nun steckte er den Kopf zur Tür herein.
"Was ist? Wollt ihr keine Bescherung?"
Die Kinder blickten überrascht auf, rührten sich aber nicht von der Stelle.
"Nun kommt schon!"
Diesmal stürmten sie begeistert los, um sofort nach Betreten des Wohnzimmers still stehen zu bleiben. Ein Weihnachtsbaum leuchtete ihnen entgegen, wo in der Vergangenheit oft genug der Adventskranz reichen musste. An seinem Fuß lagen tatsächlich Päckchen, für jedes der Kinder eines. Und dazu standen auf dem Wohnzimmertisch vier Teller mit Süßigkeiten, einigen Pfeffernüssen, Schokoladenkränzen, Marzipankartoffeln, einer Handvoll Hasel- und Walnüsse sowie einer Orange.
Emma nahm sie in die Hand und schnupperte daran. Sie konnte das köstliche Aroma des Orangensaftes durch die großporige Schale riechen. Sie wusste, diese Früchte kamen aus den Kolonien in Afrika oder Asien. Sie hatten einen langen Weg zurückgelegt und deshalb ihren Preis.
"Hier Emma, das ist für dich," drückte ihr die Mutter ein großes, weiches Paket in die Hand. Der Inhalt war in einige große Bögen Zeitungspapier gewickelt und wurde von einem Bindfaden gehalten. Ein kleiner, unter den Knoten geschobener Tannenzweig ersetzte die festliche Schleife.
"Danke, Mama."
Ungläubig starrte Emma auf das Riesenpaket. Was konnte das nur sein? Für die Schule hatte sie alles, was sie brauchte, warme Stiefel hatte sie im letzten Jahr bekommen. Da hatte ihre Mutter diese bei einer Familie günstig eintauschen können. Sie waren für Emma noch zu groß gewesen, so dass der Vater einige Lagen Papier hineingepackt und die Spitzen mit zusammengeknülltem Papier ausgestopft hatte, damit sie Emma genau passten und ihr nicht die Füße wund rieben.
Was also konnte das sein?
"Nun mach schon auf!" ermunterte sie der Vater.
Also zog Emma endlich den Bindfaden auf und entfernte langsam das Papier. Ein grob gewebter Wollstoff lag da vor ihr, in einem warmen, freundlichen Olivgrün. Sachte entfaltete sie den Stoff, erkannte Ärmel und einen Kragen und hielt schließlich einen Wintermantel in der Hand, den ersten ihres Lebens.
"Probier ihn mal an," forderte ihre Mutter sie auf.
Der Vater nahm ihr den Mantel aus der Hand und breitete ihn galant aus, damit sie bequem hineinschlüpfen konnte. Er war innen gefüttert und weich und warm. Er reichte ihr bis knapp übers Knie. Die Ärmel waren etwas zu lang, also würde er auch im nächsten Jahr noch passen. Die Ecken des Kragens waren gerundet, und er hatte genau die richtige Höhe, um ihn aufzustellen und mit dem Schal zu umwickeln, so dass ihr der Schnee nicht mehr dauernd in den Nacken rieseln würde. Wie viel leichter würden ihr die Wege zur Schule während des Winters nun fallen!
Willi freute sich über eine neue Hose aus kräftigem Cord und die beiden Kleinen über neue, gebrauchte Stiefel sowie ein Pferdchen und ein Lämmchen aus hellem Holz, die der Vater offenbar eigenhändig geschnitzt hatte.
Schließlich überreichten sich die Eltern gegenseitig ein Päckchen. Der Vater fand eine warm gefütterte Weste mit einer kleinen Tasche für seine Taschenuhr, die er gar nicht wieder ausziehen wollte. Die Mutter hielt ein riesiges, kuschelweiches und anscheinend sehr warmes Umschlagtuch hoch. Auch ihr kam dieses Geschenk so gelegen, dass sie es erst zum Schlafengehen wieder ablegte.
"Jetzt brauchen wir nur noch ein bisschen Musik. Emma, du kennst doch so schöne Lieder. Sing uns mal was," forderte der Vater sie auf.
"Aber nur, wenn Willi auch mitmacht."
Es war Emma irgendwie peinlich, ihre Stimme allein ertönen zu lassen. Aber Willi nickte tapfer und stimmte in den Gesang mit ein. Sogar Fritz und Thea steuerten einige schräge Töne bei, die aber der allgemein festlichen Stimmung keinen Abbruch taten. Für Emma war es das schönste Weihnachtsfest, das sie bisher erlebt hatte.
Der erste und der zweite Weihnachtstag waren Familienbesuchen vorbehalten. Großeltern, Onkels und Tanten, die man übers Jahr sonst selten zu Gesicht bekam, gewannen neue Kontur.
Die kleine Thea stand mit offenem Mund und starrte auf eine Riesin. Die große, umfänglich gebaute Tante Adele, Schwester ihrer Mutter, war ihr bewusst noch nie begegnet. Zwei dicke blonde Zöpfe waren wie ein Kranz um den Kopf gelegt und betonten ein helles Mondgesicht. Ein Pfannkuchen! Daran würde sie sich todsicher erinnern.
"Was starrst du so? Kannst du nicht guten Tag sagen?" herrschte diese Riesin sie mit laut durchdringendem Organ an.
Das erschreckte die Tigerkatze Minka, die gerade aus der Küche zur Diele schleichen wollte, um all den Fremden aus dem Weg zu gehen, dermaßen, dass sie mit allen vier Pfoten in die Luft ging, die Krallen der Vordertatzen ausfuhr und diese während der Landung fauchend in Tante Adeles Waden grub, bevor sie wie der Blitz verschwand. Adeles spitze Schreie wurden nicht leiser, als sie die blutigen Kratzer betastete und ärgerlich feststellte, dass ihre feinen Sonntagsstrümpfe zerrissen waren.
Thea hatte die Gelegenheit genutzt, sich unsichtbar zu machen, während ihre Mutter sich bemühte, ihre aufgebrachte Schwester zu beruhigen und die Kratzer mit unangenehm brennendem Jod desinfizierte.
Emma fand Thea in der kleinen Kammer hinter der großen Wäschetruhe und zog sie behutsam aus ihrem Versteck. Als sie mit ihr den Raum verlassen wollte, blieb Thea stocksteif stehen.
"Thea, komm, sie ist weg."
Thea war offenbar nicht überzeugt, denn sie rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen fragte sie mit großen Augen:
"War das ein Poltergeist?"
Emma musste lachen.
"Das war Tante Adele, du Dummchen. Und sie ist wirklich weg. Nun komm schon."
Und sie dachte: Alle Achtung, Thea. Genauso stellen sich die meisten von uns wahrscheinlich einen Poltergeist vor. Und genau jetzt ist die Zeit der Geister.
Dasselbe musste wohl Tante Thea gedacht haben, die ebenfalls zu Besuch war, nun in der Schlafzimmertür stand und nachdenklich auf ihre kleine Nichte blickte.
"Tante Thea! Gut, dass Tante Adele weg ist. Die war wirklich laut."
"Ich weiß, Emma. Adele hat manchmal eine ziemlich aufdringliche Art. Da kann man wirklich einen Schreck bekommen. Aber deine Schwester..."
Die Tante schüttelte den Kopf. Emma druckste ein wenig herum.
"Tante Thea, kann ich dich was fragen?"
"Na sicher, immer zu!"
"Die Zeit jetzt, du weißt schon, die Raunächte. Was bedeutet das? Als Gertie in der Schule danach gefragt hat, ist unser Lehrer richtig böse geworden. Alles Aberglaube, hat er geschimpft."
Tante Thea seufzte.
"Tja, manche Menschen heute machen es sich sehr leicht, altes Wissen als Aberglauben abzutun. Nehmen wir Weihnachten. Die Geburt von Jesus nach christlichem Glauben ist eine Sache. Opfer- und Lichtfeste gab es im Mittwinter schon vor dem Christentum. Man sagt immer, die Menschen waren vorher Heiden, sie hätten keinen Glauben gehabt und so weiter. Das stimmt aber nicht. Sie hatten einen anderen Glauben, der sie viel stärker mit der Natur verbunden hat. Die Pfarrer wollen davon nichts wissen und die meisten Leute trauen sich nicht, etwas gegen die Kirche zu sagen. Im Mittelalter konnte man dafür in den Kerker kommen oder sogar auf den Scheiterhaufen."
Emma flüsterte fast.
"Da kann man ja richtig Angst kriegen! Redet deshalb niemand über die Raunächte?"
"Ja, genau. Aber alle wissen noch davon. Wir feiern Silvester mit viel Krach, genau wie in alter Zeit, und niemand wird jetzt seine Wäscheleinen aufspannen und Wäsche aufhängen."
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