»Was ich gestern gesehen habe!« sagt Anja wie für sich. »Filipp Filippowitsch kehrte seine Lider so um, daß er ganz rote Augen bekam, so grausig, wie ein Teufel.«
»Ich hab' es auch gesehen,« sagt Grischa. »Acht! Bei uns kann ein Schüler seine Ohren bewegen. Siebenundzwanzig.«
Andrej sieht Grischa an, denkt über etwas nach und sagt dann:
»Ich kann auch die Ohren bewegen …«
»Nun, zeig mal!«
Andrej bewegt die Augen, Lippen und Finger, und es scheint ihm, daß sich auch seine Ohren bewegen. Ein allgemeines Gelächter.
»Es ist ein böser Mensch, dieser Filipp Filippowitsch,« seufzt Sonja. »Gestern kommt er zu uns ins Kinderzimmer herein, und ich bin bloß im Hemde … Und ich schämte mich so!«
»Gewonnen!« schreit plötzlich Grischa, das Geld vom Teller wegraffend. »Ich hab' gewonnen! Kontrolliert, wenn ihr wollt!«
Der Sohn der Köchin schaut empor und wird blaß.
»Ich darf also nicht mehr spielen?« flüstert er.
»Warum?«
»Weil … weil ich kein Geld mehr hab'.«
»Ohne Geld geht es nicht!« sagt Grischa.
Andrej sucht für alle Fälle noch einmal in seinen Taschen. Als er in ihnen nichts, außer Brotkrumen und einem zerkauten Bleistiftende findet, verzieht er seinen Mund und beginnt verzweiflungsvoll mit den Augen zu zwinkern. Gleich fängt er an zu weinen …
»Ich werde für dich setzen!« sagt Ssonja, die seinen Märtyrerblick nicht ertragen kann. »Aber weißt du, du mußt es mir später zurückgeben.«
Das Geld wird eingezahlt und das Spiel geht weiter.
»Es wird irgendwo geläutet,« sagt Anja und reißt ihre Augen auf.
Alle hören auf zu spielen und sehen mit geöffnetem Munde aufs dunkle Fenster. Hinter den Scheiben flackert der Widerschein der Laterne.
»Das kommt dir nur so vor.«
»In der Nacht wird nur auf dem Friedhof geläutet …« sagt Andrej.
»Wozu läutet man denn dort?«
»Damit die Räuber nicht in die Kirche einbrechen. Vorm Läuten fürchten sie sich.«
»Wozu brechen denn die Räuber in die Kirche ein?« fragt Ssonja.
»Das ist doch klar: um die Kirchendiener totzuschlagen!«
Eine Minute vergeht im Schweigen. Alle sehen sich um, zucken zusammen und setzen dann das Spiel fort. Dieses Mal gewinnt Andrej.
»Er hat gemogelt!« brüllt ohne jede Veranlassung Aljoscha.
»Du lügst, ich habe nicht gemogelt!«
Andrej erbleicht, verzieht seinen Mund, und, klatsch, gibt er Aljoscha eins auf den Kopf! Aljoscha rollt wütend mit den Augen, springt auf, stemmt sich mit dem einen Knie auf den Tisch und, klatsch, schlägt er seinerseits Andrej ins Gesicht! Beide geben sich noch eine Ohrfeige und heulen. Ssonja, die solche Schreckensszenen nicht vertragen kann, fängt auch an zu weinen, und das Speisezimmer wird von einem vielstimmigen Geheul erfüllt. Aber man glaube nur nicht, daß das Spiel darum ein Ende nimmt. Es vergehen keine fünf Minuten, und die Kinder plaudern und lachen wieder friedlich. Die Gesichter sind verweint, aber das hindert sie nicht, zu lächeln. Aljoscha ist sogar glücklich: es hat ein Missverständnis gegeben!
Ins Speisezimmer tritt der Tertianer Wassja. Er sieht verschlafen und enttäuscht aus.
Das ist doch empörend! denkt er, betrachtend, wie Grischa seine mit klirrenden Kopeken gefüllte Tasche befühlt. Wie darf man nur den Kindern Geld geben! Und ihnen das Hazardspiel erlauben! Ein vorzügliches pädagogisches System, das muß man sagen. Empörend!
Aber die Kinder spielen so hinreißend, daß er selbst Lust bekommt, sich zu ihnen zu gesellen und sein Glück zu versuchen.
»Wartet, ich werde auch mitspielen,« sagt er.
»Setz' ein Kopeke!«
»Gleich,« sagt er, seine Taschen durchsuchend. »Ich habe keine Kopeke, aber hier ist ein Rubel. Ich setze einen Rubel.«
»Nein, nein, nein … eine Kopeke sollst du setzen!«
»Ihr Schafsköpfe. Ein Rubel ist doch jedenfalls mehr wert als eine Kopeke,« erklärt der Gymnasiast. »Wer gewinnt, kann mir ja herausgeben.«
»Nein, bitte! Geh lieber weg!«
Der Tertianer zuckt die Achseln und geht in die Küche, sich Kleingeld zu verschaffen. Aber auch dort gibt es keine Kopeken.
»Dann wechsle mir also,« wendet er sich, aus der Küche zurückkehrend, wieder an Grischa. »Ich werde dir dafür was geben. Du willst nicht? Nun, so verkaufe mir für einen Rubel zehn Kopeken.«
Grischa blickte Wassja mißtrauisch an: ob das nicht wieder irgendein Leim, eine Mogelei ist?
»Ich will nicht,« sagt er, seine Tasche festhaltend.
Wassja gerät außer sich und nennt die Spieler Esel und Dummköpfe.
»Wassja, ich werde schon für dich setzen!« sagte Ssonja. »Komm her!«
Der Gymnasiast nimmt Platz und sucht sich zwei Karten aus. Anja beginnt die Zahlen zu rufen.
»Ich habe eine Kopeke fallen lassen!« erklärt mit aufgeregter Stimme plötzlich Grischa. »Halt!«
Die Lampe wird heruntergenommen, und man kriecht unter den Tisch, um die Kopeke zu suchen.
Sie fassen mit den Händen Schmutz und Nussschalen, stoßen mit den Köpfen aneinander, aber die Kopeke finden sie nicht. Sie beginnen von neuem zu suchen und fahren damit solange fort, bis Wassja Grischa die Lampe aus den Händen reißt und sie an den Platz stellt. Aber Grischa sucht im Dunkeln weiter.
Schließlich ist die Kopeke gefunden. Die Spieler setzen sich an den Tisch, um weiter zu spielen.
»Ssonja ist eingeschlafen!« erklärt Aljoscha.
Ssonja hat ihr Lockenköpfchen in die Hände gelegt und schläft so süß und ruhig und fest, als wäre sie schon vor einer Stunde eingeschlafen. Während die andern die Kopeke suchten, hat sie der Schlaf ganz unversehens übermannt.
»Geh, leg' dich auf Mamas Bett!« sagt Anja, sie aus dem Speisezimmer führend. »Geh!«
Sie wird von der ganzen Kinderschar begleitet, und fünf Minuten später gewährt Mamas Bett einen eigentümlichen Anblick. Dort schläft Ssonja. Neben ihr schnarcht Aljoscha. Den Kopf auf deren Füßen, schlafen Grischa und Anja. Daneben hat auch Andrej ein Plätzchen gefunden. Um sie herum liegen die Kopeken, die bis zum neuen Spiel jede Bedeutung und allen Wert verloren haben. Gute Nacht!
Eine Gesellschaft von Jägern nächtigte auf frischem Heu in einem Bauernhause. Durch die Fenster sah der Mond, auf der Straße hörte man die traurigen Weisen einer Ziehharmonika, das Heu strömte süßlichen, betäubenden Duft aus. Die Jäger sprachen von Hunden, von Frauen, von der ersten Liebe, von Bekassinen. Nachdem die Lebensgeschichten aller bekannten Damen durchgehechelt und einige Dutzend Anekdoten zum besten gegeben waren, gähnte der dickste aus der Gesellschaft, der im Dunkeln wie ein Heuschober aussah, laut und sprach mit saftigem Majorsbass:
»Geliebt zu werden ist kein Kunststück: die Damen sind ja dazu da, um uns zu lieben. Ist aber einer von Ihnen, meine Herren, schon jemals gehaßt, leidenschaftlich, tödlich gehaßt worden? Hat jemand von Ihnen schon Gelegenheit gehabt, die Exaltationen und Orgien des Hasses zu beobachten? Wie?«
Es folgte keine Antwort.
»Also niemand, meine Herren?« fragte der Majorsbass. – »Nun, ich meinesteils bin einmal gehaßt worden, gehaßt von einem hübschen Mädchen, und konnte die Symptome eines ersten Hasses an mir selbst studieren. Des ersten, meine Herren, weil das etwas der ersten Liebe ganz Entgegengesetztes war. Übrigens ereignete sich das, wovon ich eben erzählen will, noch zu einer Zeit, wo ich weder von Haß noch von Liebe etwas verstand. Ich war damals ungefähr acht Jahre alt, aber das macht nichts: hier, meine Herren, spielt nicht er, sondern sie eine Rolle. Nun, ich bitte also um Aufmerksamkeit. An einem schönen Sommerabend vor Sonnenuntergang saßen ich und meine Gouvernante Zinotschka, ein reizendes, sentimentales Persönchen, das eben erst der Pension entwachsen war, in der Kinderstube, und sie unterrichtete mich. Zinotschka guckte zerstreut durchs Fenster und sprach:
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