Die Untersuchung findet am nächsten Freitag, den 13. Oktober in der Onkologieabteilung statt und dauert etwa drei Stunden. Der größte Teil der Zeit besteht aus Liegen und Warten.
Ich bekomme eine radioaktive Substanz gespritzt, die sich im ganzen Körper verteilen muss und sich an Orten mit großer Stoffwechselaktivität konzentrieren wird. Dazu gehören auch Tumore und Metastasen. Sollten sich irgendwo im Körper Metastasen gebildet haben, wird man diese erkennen, sofern sie mindestens 5 mm Durchmesser haben. Dieser Verteilungsprozess geht so langsam vonstatten, dass ich über zwei Stunden liegen muss, bis er abgeschlossen ist. Hier wird mir zum ersten Mal bewusst, warum man Kranke Patienten nennt. Patient kommt vom französischen patienter und heißt warten . Ich darf zur Überbrückung nicht einmal etwas lesen, da sich sonst die Substanz in den Augen konzentrieren würde.
Danach geht’s zur Untersuchung. Ich werde auf einer Liege durch eine enge Röhre geschoben, die recht laute Geräusche macht. Die Prozedur ist zwar keineswegs schmerzhaft, aber insofern unangenehm, weil ich mich sehr eingeengt fühle. Werden sie etwas finden? Was beobachten sie gerade? Nach nur 15 Minuten darf ich wieder ins Wartezimmer zurück. Ich kann dabei durch eine Glasscheibe schauen und sehe den Monitor, auf dem mein Körper abgebildet ist. Die Ärzte diskutieren angeregt die Befunde. Was besprechen sie wohl? Ich werde wieder nervös und erinnere mich an die Situation vom vergangenen Dienstag.
Um mich nicht verrückt zu machen, wende ich den Blick ab und lasse ihn durch den Warteraum schweifen. Ich entdecke ein paar Stühle weiter eine junge Frau in Begleitung einer älteren Frau. Plötzlich wird die Jüngere hereingerufen. Die beiden stehen auf und umarmen sich. Die ältere Frau schaut der jungen nach, bis sie im Behandlungszimmer verschwunden ist. Ihr Gesicht ist voller Sorge. Ich nehme an, dass sich gerade eben Mutter und Tochter verabschiedet haben. So jung und schon Krebs , denke ich. Das berührt mich, da ich selber betroffen bin, ganz besonders. Am 27. September beobachtete ich ein anderes Drama. Ein alter Mann ging im Korridor auf und ab, er war sehr nervös. Plötzlich wurde er hereingerufen. Nach zehn Minuten kam er in Tränen aufgelöst wieder heraus. Was er wohl für eine Nachricht verkraften musste? Wie zerbrechlich doch das Leben ist.
In Gedanken versunken realisiere ich gar nicht, dass die Tür aufgeht und der Arzt herauskommt. Plötzlich steht er vor mir. »Es sieht alles gut aus. Wir haben nichts gefunden.« Diese Nachricht löst bei mir Glücksgefühle aus. Mit schwebendem Gang verlasse ich die Klinik und kehre nach Hause zurück. Das war entgegen allem Aberglauben ein ziemlich positiver Freitag der 13 .
…einzelne Krebszellen im Lymphknoten. Wie sind diese zu bewerten?
Die vereinzelt in einem Lymphknoten vorgefundenen Krebszellen (in der Fachsprache isolierte Zellen oder kurz ITC [6]genannt) schaffen natürlich eine neue Ausgangslage. Ich habe nicht ohne Grund die Resultate der histologischen Untersuchung mit großer Spannung erwartet. Wie gesagt wird beim Staging der Patient einem dem Ausbreitungsgrad des Tumors entsprechenden Stadium zugeteilt. Dabei spielt neben der Größe des Primärtumors das Auffinden von Metastasen in Lymphknoten bzw. weiter entfernten Organen eine entscheidende Rolle. Man unterteilt grob vier Stadien, welche noch detaillierter gegliedert werden können. Vereinfacht gesagt, bestehen im Stadium 1 gute Chancen, den Krebs zu überleben, wohingegen die Krankheit im Stadium 4 nicht mehr heilbar ist und nur noch palliativ behandelt werden kann. Ausnahmen gibt es natürlich immer, gerade beim Melanom.
Die Stadieneinteilung erweist sich in meinem Fall als schwierig, weil nicht klar ist, ob das, was die Ärzte bei der histologischen Untersuchung gefunden haben, als Mikrometastase zu betrachten ist. Gemäß Eintrag in meiner Krankenakte handelt es sich um weniger als 20 isolierte Zellen, die keine kohäsiven Verbände bilden. Ist es keine Mikrometastase, so wäre ich immer noch im Stadium 1, handelt es sich aber um eine Mikrometastase, wäre ich im Stadium 3. Ein Telefonat mit Dr. H. bringt keine Gewissheit. Es sei unklar, wie dieser Befund zu werten ist. Gemäß aktuellen Richtlinien müsste ich allerdings jetzt alle Lymphknoten im betroffenen Gebiet entfernen lassen. Ich frage ihn, ob ich mit der Operation noch warten könne, was er bejaht. Ob ich denn mit einer Ausräumung der Lymphknoten meine Überlebenschancen verbessern würde, frage ich weiter.
»Das ist umstritten. Es bleibt sicherlich ein Restrisiko und Sie müssen davon ausgehen, dass durch diesen Befund ihre Lebenserwartung verkürzt ist. Vermutlich auch dann, wenn Sie operiert werden.«
Es ist schon merkwürdig. Eigentlich wollte man mit dem Staging eine klare Standortbestimmung vornehmen und jetzt ist die Situation unklarer denn je. Ich lebe mit einem Damoklesschwert über dem Kopf, das jederzeit auf mich heruntersausen kann. Und ich bin mir nicht sicher, ob die Befolgung des Prozederes meine Situation positiv verändern kann. Schließlich wäre der Eingriff, von dem ich nicht weiß, ob er mir etwas bringt, mit erheblichen Einschränkungen verbunden.
Ich erzähle meinem Hausarzt von dem unklaren Befund und dass ich unschlüssig sei, ob ich die Lymphknoten entfernen lassen soll oder nicht.
»Wenn Sie mein Sohn wären, müssten Sie die Operation machen«, gibt er zu verstehen. Er könne mich natürlich nicht zwingen, aber ich solle doch wenigstens noch mit einem Onkologen sprechen.
Ich bin damit einverstanden. Leider bringt mich das Gespräch, welches Anfang Dezember stattfindet, auch nicht weiter. Der Onkologe sieht den Befund als Vorstufe einer Metastasierung. Er empfiehlt wie alle anderen Ärzte, die Lymphknoten im betroffenen Gebiet komplett zu entfernen.
Ich bin mit den bisher erhaltenen Antworten nicht zufrieden und beginne im Internet zu recherchieren, in der Hoffnung, noch etwas Brauchbares zu finden. Dabei stoße ich auf eine interessante Studie [7]. In dieser wurden Daten von ca. 1400 Patienten mit einem mit mir vergleichbaren Erstbefund und ebenfalls durchgeführter Sentinalnode-Biopsie [8]für den Zeitraum von 1991 bis 2003 ausgewertet. 85 Prozent der Patienten hatten einen negativen Befund, d. h. ihre Lymphknoten waren frei von Mikrometastasen. Bei 15 Prozent der Patienten fand man Mikrometastasen. Bei 5 Prozent der Patienten (ca. 60) mit negativem Befund fand man wie bei mir isolierte atypische Zellen ( ITC ). Beunruhigend ist die Tastsache, dass man bei 12 Prozent der Patienten mit ITC in den nachgelagerten Lymphknoten Mikrometastasen fand. Für mich hieße das, dass ich eventuell nicht nur ITC in den Wächterlymphknoten, sondern echte Mikrometastasen in den nachgelagerten Lymphknoten hätte. Die Überlebenswahrscheinlichkeit für die nächsten fünf Jahre sinkt mit ITC von 88 auf 74 Prozent (einer von vier Patienten mit einem Befund wie ich, stirbt in diesem Zeitraum!). Die Studie macht leider keine Aussage darüber, ob das genau die 12 Prozent der Patienten mit den Mikrometastasen in den nachgelagerten Knoten betrifft und ob man mit einer Komplettausräumung der Lymphknoten die Überlebenschancen erhöhen könnte. Quintessenz auch hier: Ich bin so schlau wie zuvor.
Nachdem ich mit Dr. H., meinem Hausarzt und dem Onkologen gesprochen und das Internet durchforstet habe, entschließe ich mich, entgegen allen Empfehlungen und gültigen Richtlinien, auf die Operation zu verzichten. Sie würde mit hoher Wahrscheinlichkeit meine Lebensqualität erheblich einschränken und mir dennoch kein längeres Leben garantieren. Ich entscheide mich für mehr Lebens qualität statt – nicht einmal gesicherte – ‑ quantität .
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