Veronika Schilling - Risse

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"Wenn deine Mutter und meine Ururgroßmutter nicht in die Schweiz eingewandert wären, gäbe es weder dich noch mich. Verstanden? Oder ist das zu schwierig für dich?" Das fragt Luise Freund Adrian, mit dem sie auf seiner Bodenseejacht sonnige Sommerferien verbringt. Auf dem internationalen Gewässer mit seinen geschichtsträchtigen Ufern tauchen Fragen auf. Die Schweizer haben migrationsfeindliche Abstimmungen hinter sich. Sie sind das ständige Tagesgespräch. Vor fünfzig Jahren hatte Luises Großvater das Kind bei einem Waldspaziergang auf einen Grenzstein gehoben und gesagt: «Jetzt stehst du genau zwischen zwei Ländern, mitten in Europa.» Hundertfünfzig Jahre zuvor war das Jahr ohne Sommer gewesen, 1816. Missernten waren der Grund, dass Luises Vorfahrin aus dem badischen Königschaffhausen ins schweizerische Schaffhausen (ohne König) am Rheinfall einwanderte. Luise – in langer Familientradition nach der badischen Großherzogin benannt – denkt: Ohne das Jahr 1816 ohne Sommer gäbe es mich nicht. Dann gäbe es auch meine Söhne nicht, Fritz, der davon träumt, eine kühne Brücke über den See zu bauen. Fritz ist der Beobachter in dieser Geschichte. Auch die deutsche Geschichtsstudentin Lea beschäftigt sich mit ihrer Herkunft, mit den alten Fotos von Verwandten, über die ihre Eltern schweigen. Lea hat Schreckliches entdeckt. «Live sollst du das sehen», sagt sie zu Fritz. Wenn ihre Vorfahrin einen anderen Weg gegangen wäre, gäbe es Lea nicht. Auch Luise will aus der beschaulichen Ferienidylle aufbrechen und Spuren nachgehen bis hinunter an die Adria. Sie und ihre Söhne treffen auf Fremde, die dasselbe tun – Fragen stellen zu Nachbarschaft, Hass und Liebe.

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Veronika Schilling

Risse

Wer gehörte nun zu wem – und musste das so bleiben?

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Inhaltsverzeichnis Titel Veronika Schilling Risse Wer gehörte nun zu wem und - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Veronika Schilling Risse Wer gehörte nun zu wem – und musste das so bleiben? Dieses ebook wurde erstellt bei

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Impressum neobooks

Kapitel 1

Das Wasser fühlte sich warm an. Ich saß auf der Badeplattform und bewegte die Füße hin und her im Seewasser. Da schwammen winzige schlanke Fische unten herum. Der Grund schimmerte grünlich. Ich sah vom Anker nichts als die Leine. Dass ich mir ein T‑Shirt überziehen soll, hatte Mama schon zweimal gerufen. Wenn ich mir schon keine Sonnencreme auf die Schultern schmieren wolle. Die spülte ja gleich wieder weg, wenn ich hineinspringe, um mich abzukühlen, sagte ich mir. Eine Sauhitze war auf dem Boot. Ich bekam langsam schlechte Laune. Der Schnitt in der Fußsohle und so. Im rechten Fuß klopfte es.

»Zuerst der Schnitt im Fuß und dann noch zu viel Sonne!«, rief Mama aus der Kajüte und zog sich die Kopfhörer aus den Haaren. Sie hörte wohl gerade ein Stück von diesem Bedrich. Friedrich. Eigentlich Fritz – wie ich. Nach dem hatte sie mich benannt. Wie konnte sie nur, denn Fritz hieß doch heute kein Mensch mehr, nur ich. Um nicht zu sagen Friedrich. Ich überlegte mir einmal mehr, wie ich mich selber umbenennen könnte. Da sah ich wieder sie im lila Bikini am Steg drüben. Jedesmal tauchte sie unerwartet aus den Fluten auf direkt bei der Treppe und stieg die Stufen hinauf und schüttelte den Kopf, sodass die Tropfen glitzernd um sie herumflogen. Dann zupfte sie ein bisschen an ihrem Oberteil herum und legte sich auf den Steg.

Vor einer Stunde war ich ganz in der Nähe ans Ufer gewatet, und da im Schlick lag eine Glasscherbe und ritzte mir den Fuß auf. Scheißscherbe. Als ich an Bord zurück war und auf Adrians weißem Deck herumrutschte, rief Adrian: »Da ist ja Blut!« Und ob ich die Haifische anlocken wolle. Dabei rauchte er weiter seine feine Zigarre, warf einen nassen Lappen zu mir hinüber (zum Aufputzen) und Mama kramte in der Apotheke, rollte drei Meter Gaze ab, und in wenigen Augenblicken war ein Verband errichtet. Die Kopfhörer waren wie eine Halskrause unter dem Kinn meiner Mutter – Luise – und ich hörte Bedrich darin weiterdudeln. Sie summte leise mit. Zu Hause sang sie manchmal mit starker Stimme ein Operettenlied, aber dann saß sie an ihrem Schreibtisch und notierte irgendwelche Dinge auf Zettel und in Notizbücher und auf die vollgekritzelte Schreibunterlage. Auf dem Boot war sie leise und hantierte geschickt mit Gläsern, Flaschen, Snacks, Frottiertüchern und dem Weltatlas, auf dem sie mit dem Zeigefinger herumfuhr auf Seite 46.

»Ich bringe dir zu trinken.« Sie tauchte in die Kajüte. Ich ließ mich auf die Polsterbank sinken und hielt kurz Adrians Zigarre, damit er die Metalldose aufwuchten konnte, in die er die Asche abstreifte. Er hatte Schweißtröpfchen über der Sonnenbrille. Niemals warf er etwas in den See, das sei unseemännisch, keine Olivenkerne, keine Kleiderfusseln, nicht einmal eine flaumige Schwanenfeder, die angesegelt kam und auf seinem Badetuch hängenblieb. Er pflückte sie ab und setzte sie »seiner Nixe« im grünen Badekleid (aber mit Beinen) auf die Stirnlocken. Sie kniff ihn zum Dank leicht in den Arm und gab mir ein Glas Cola in die Hand. (Was ich lieber hatte als Orangensaft mit Fusseln drin, also Fruchtmark oder wie die hießen.)

»Danke, danke.«

Wir tranken alles Mögliche auf Adrians Boot. Wenn sie nicht genau hinsahen, nahm ich Mamas Löffel aus ihrem blauen Drink, tauchte ihn dreimal in Adrians Whisky und schöpfte ein wenig ab, um mein Cola zu verschärfen.

Nicht, dass es so sehr schmeckte.

Auf dem Steg drüben waren zwei Füße zu sehen, die in der Luft pendelten. Lila – ich sagte innerlich Lila – lag bäuchlings dort, wippte mit den Füßen und las ein Buch.

*****

Es war so warm, dass die Markise auch nicht viel nützte. Michael schritt einmal um den Wohnwagen herum, schaute kurz in die Ferne (Gewitter im Anzug?) und fragte sich dann, ob das Stützrad nicht etwas wenig Luft hatte. Na ja, er war ein Anfänger beim Campen, er könnte doch kurz auf ein Bier zur Anmeldung hinübergehen, da war vielleicht Reto, mit dem er sich während einer Woche angefreundet hatte. Der wusste alles. Alles über Technik, Aufbau, Raffinesse, neuste Gags eines Wohnwagens und er kannte die schönsten Campingplätze ganz gleich in welcher Gegend. Sie hatten gestern darüber geredet, wie sie überhaupt mit Camping angefangen hatten. Reto war Schreiner und fand es wunderbar, einen abklappbaren Tisch zu erfinden, den er völlig unsichtbar an seine Küchenzeile montiert hatte mit sieben verschiedenen Schrauben. Und er hasste Hotels.

»Ich hasse Hotels nicht, im Gegenteil«, hatte Michael erwidert. »Das Wahnsinnige ist, dass ich mehrere Lieblingshotels habe. Jetzt werde ich aber wohl nie mehr eines von innen sehen. Weil…«

Da war Mark, sein älterer Sohn. Er war im Frühling mit hängendem Kopf bei seinem Vater erschienen und hatte gesagt: »Da ist noch der scheiß Wohnwagen. Ich kann doch nicht allein reisen damit. Willst du ihn? Er ist in bestem Zustand. Frisch vorgeführt.«

Er hatte sich von seiner Freundin getrennt. Wer sollte die Wohnung behalten, wer nahm das Auto (Sie: Ich, wieso ich?! – Er: Ich habe beruflich gerade verdammten Stress. Und wer nimmt den verdammten Wohnwagen?)

Deshalb stand der Wagen jetzt hier im Allgäu und nicht in Kroatien, wo Mark hatte hinfahren wollen mit seiner Ex. Er machte jetzt Ferien im Schwimmbad zu Hause. Duschte sich den Staub von seiner Straßenbaustelle dort ab.

Im Innern des Wagens klapperte es. Was machte sie da bloß? Michael wusste, sie machte alles richtig, sie liebte Hausarbeit und hatte sich beschwert, dass es keinen Backofen gab im Wohnwagen.

Jetzt erschien Moni an der schmalen Tür und schob das Fliegengitter auf. Die linke Hand steckte in einer Kristallvase, von der Wasser tropfte, ihr Gesicht war ziemlich rot und ihr Strandkleid verrutscht.

»Sieh doch, wie dumm – meine Hand. Ich bekomme die Hand nicht mehr heraus. Was soll ich jetzt machen. Ich wollte die Vase ganz sauberwischen.«

Ach, das sah nach Mühe und Arbeit aus. Die Vase stammte von Monis Mutter und durfte nicht zertrümmert werden. So ein gutes Stück, das einen ewig an die Kindheit erinnerte. An den Sonntagsstrauß.

Moni hatte den Wohnwagen mit Begeisterung eingerichtet. Es fehlte an nichts, von den Doppelwandkaffeegläsern bis zur Salatschleuder.

Wenn es nicht brütend warm gewesen wäre, hätten sie in Kürze einiges Publikum gehabt, alle Nachbarn, die ganz selbstverständlich ihre Hilfe angeboten hätten. Aber die ruhten nun am Waldrand und beim Schwimmsee. Bei Meiers drüben hing die Hängematte bewegungslos da, obwohl sie gefüllt war.

Moni winselte ein wenig. »Soo dumm…«

»Komm, wir gehen zu Retos.«

»Ich so dumm mit der Vase da?«

»Ja, leg das Küchentuch darüber zur Tarnung.«

Michael holte seinen Geldbeutel und eine Kappe und verriegelte die Tür. Sie gingen quer über die Wiese. Retos Wagen stand genau am anderen Ende der großen Campinganlage.

»Was sollen sie denn machen? Wollt ihr zu dritt daran ziehen? So dumm, wie ich daherlatsche mit dem Tuch auf der Riesenfaust. Also wirklich, wie konnte ich.«

»Nicht so schlimm. Wir werden es hinkriegen. Hast du denn keinen Flaschenputzer dabei? Das würde mich wundern. Du hast doch für alles Bürsten und Besen und –«

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