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Michael und Moni hatten diesen »Bescheid« aus der silbernen Agenda nicht lange für sich behalten können. Moni hatte zu ihrem fünfzigsten Geburtstag vor Kurzem von einer Kollegin vier Biergläser geschenkt bekommen, auf denen vertikal BEER zu lesen war. Prädestiniert, um Bier daraus zu trinken. »Für deine Campingferien«, hatte die Kollegin gesagt, »da lädt man doch oft die Nachbarn zu einem Glas ein.« So war es auch.
BEER hatte schon einige Male auf dem Tisch draußen gestanden. Sie hatten ja auch gewusst, dass sie nicht zuletzt hier Oberschwabens berühmtes Bier probieren würden. Das hatte nun Reto so richtig in Fahrt gebracht und er machte immer weitere Vorschläge, welches Bier sie auch unbedingt kennen lernen sollten. Jetzt saßen sie und prosteten sich zu, während wieder ein unbeschreiblicher Sonnenuntergang die grünen Weiden wie von innen leuchten ließ. Susanne hatte etwas in der Pfanne gebacken, das Moni an Yorkshirepudding erinnerte. Köstlich, genau wie sie es auch einmal hingekriegt hatte in jüngeren Jahren, gelernt von einer Britin, lange nicht mehr gemacht. Hier hieß es Pfitzauf.
Bei fortgeschrittenem Abend hatte Reto eine Mundharmonika aus seiner Hosentasche gezogen, Moni zugezwinkert und »Der Junge mit der Mundharmonikaaa…« zu spielen begonnen. Nur kurz. Danach sagte er über den Tisch hinweg zu Moni: »Jetzt spiel ich etwas Richtiges für dich. Es passt nicht ins Allgäu. Du musst dir den Süden vorstellen, das Meer – die Adria.«
Er spielte versonnen.
»Italienisch heißt es ›O pescator dell’onda, Fidelin‹.« Er spielte noch eine Strophe.
»Wie schön. Als Kind hatten wir sicher alle eine kleine Mundharmonika, aber spielen konnten wir nicht richtig darauf. Nur etwas lärmen. Ihr auch?«
Susanne und Moni nickten Michael bestätigend zu. »Genau so war es. Wir konnten nur rufen damit. Und wie heißt der Text deutsch?«, fragte Moni schnell.
Reto begann zu deklamieren, in der Hand die Mundharmonika hin- und herbewegend. »Oh, lenke durch die Welle, Fidelin, den Kahn an diese Stelle, Fidelin.«
Moni spürte plötzlich etwas in ihrem Herz. Das Wellenlied machte sie fast etwas verrückt. Das war vielleicht das Bier. Oder war es die Poesie? Jedenfalls platzte sie heraus damit, was sie beschäftigte. Dass sie in einer gewissen Agenda den »scheiß Test positiv« gelesen hatte, in seiner vollen Bedeutung, obwohl sie nur kurz hineingeguckt hatte, um zu sehen, wem das Buch gehörte.
Jetzt redeten alle vier durcheinander und vermuteten, dass Mark wohl keinen blassen Schimmer davon hatte. Dass es seins sein könnte.
»Was tun?«
Susanne: Der Q gleich telefonieren und sie zur Rede stellen.
Reto: Abwarten, Bier trinken.
Michael: Alles in eine Tüte stecken und bei Tina ohne Kommentar abgeben.
»Aber!«, rief Moni, »wenn diese Schwiegereltern nun ihre Nase in die Agenda stecken und von dem Test erfahren und Tina hat vielleicht abgetrieben …«
Also an diesem herrlichen Abend war das nicht mehr zu lösen, dieses Verwandtschaftsdebakel. Überhaupt, in welchem Grad war das verwandt, dieses Problem? Wer hatte eigentlich Anspruch auf dieses Problem?
»Ich vielleicht«, meinte Michael und angelte eine Zigarette hervor. »Möglicherweise.«
Das silberne Buch konnte auch vor dem Abgeben mit breitem Klebeband umwickelt werden. Das würde die Schwiegermutter vom Schnüffeln abhalten. Und es würde somit sprechen zu Tina!
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Luise fuhr mit dem Finger gerne Routen ab zu Wasser und zu Lande in ihrem Atlas. Natürlich hatte sie eine große Mappe voll Bücher aufs Boot mitgeschleppt, aber sie las gar nicht so viel, weil es immer wieder etwas zu sehen gab auf dem See, ohne dass man es suchte. Wenn das Boot sich langsam um den Anker herum bewegte, sah man immer einen anderen Ausschnitt der Landschaft. Also häkelte Luise oft an einer Decke und konnte dabei auf den See hinausblinzeln. Sie hatte klein angefangen, in der Mitte ein Post-it-Zettel-großes Quadrat gehäkelt, das jetzt immer größer wurde. (Apropos Post-it, heute hatte Fritz ein Zettelchen an den Kühlschrank geklebt: »Bin dann mal weg – Jakob«.) Immer längere Runden gab es abzuarbeiten. Zu Hause hätte sie diese Häkelarbeit niemals angefangen, viel zu langweilig. Sie bastelte lieber etwas mit Klebstoff – ein Wandbild aus Teebeutelanhängern, die sie als Mosaik anordnete. Aus dem Muster war ein Segelboot zu erkennen. Hier aber, mit all den Szenen auf und am See, war Häkeln genau die richtige Beschäftigung. Statt gar nichts zu tun. Wenn Luise etwas einfiel, was beim nächsten Landgang in Langenargen eingekauft werden sollte, schrieb sie es auf einen Block. Es machte Spaß, zu wissen, dass nie etwas vergessen ging. Das ging nun einfach nicht gut, spontan irgendwelche Dinge einzukaufen und dann abends spät zu entdecken auf dem Wasser, au Shit, es ist kein Brot mehr da, kein Krümel, oder wir haben Tomatensauce aufgetaut für heute Abend, und jetzt ist kein Stängelchen Spaghetti mehr da, nicht ein Schatten davon. Dabei hatte man so viel gebunkert am Anfang. Ob man nun die rote Sauce über den Blumenkohl gießen sollte?
Nein, Luise notierte sich lieber alles. Keiner merkte das im Allgemeinen, dass Luise immer die Heinzelmännchen ausschickte, die sie zu Dutzenden züchtete in ihrem Kopf. Ein Mädchen muss an alles denken, was im Alltag gebraucht wird, hatte es in ihrer Jugend geheißen. Dein Mann wird es dir danken, Luisli.
Ja, so war es herausgekommen. Nur, was hatte das mit Mädchenleben zu tun? Warum konnten die Jungen nicht ebenso »alltäglich« handeln und es sich danken lassen von den Mädchen? Sie fragte sich, was Michael gerade tat im Allgäu. Der hatte ja wohl nichts zu tun und nichts zu melden in Monis Fünfsternehaushalt. Durfte er wohl das mikroskopisch kleine Waschbecken putzen oder den Abfall zur Tonne tragen? Wohl kaum. Machte er seine chronische Behauptung wahr, im Urlaub sollte man malen? Das konnte ihr ganz gleich sein, und doch dachte sie manchmal daran. Sie hatte ihm einmal ein Köfferchen mit Farben geschenkt, aber das war hundert Jahre her und sicher für die Füchse gewesen. Luise hasste es, wenn sich die Vergangenheit von Zeit zu Zeit vor ihr auftürmte wie ein Amboß am wolkigen Himmel.
Mit energischen Gedanken riss sie sich in die Gegenwart zurück. Sie wurde gleichzeitig durch ein Johlen aufgeschreckt. Adrian döste in der Kabine. Fritz hatte sich wohl Münzen in die Badehose gestopft und war zum Steg geschwommen und gewatet, um mit Lea ein Eis essen zu gehen. Lea zeigte ihm alles in Ufernähe. (Luise fühlte etwas wie Neid.)
Das Johlen wiederholte sich. Es tönte hektisch, nicht nach Vergnügen und nicht nach Streit. Sie legte die Häkelarbeit hin und erhob sich. Noch vor einer Minute hatte sie doch ein Tretboot da draußen fahren sehen mit einer Art Gartenbänkchen hintendrauf. Wo war das nun? Tretboote konnten doch nicht sinken, nicht davonrasen und nicht kentern …
O doch, genau das war passiert. Das Bänkchen war verschwunden – das Boot schwamm kopfunter. Durchgekentert war es. Die vier Jungen standen bis zum Hals im Wasser, wie Luise durch das Fernglas beobachten konnte. Sie versuchten nach Kräften, das Tretboot wieder umzukehren, aber dieses bewies nun, wie träg und stabil es war – es kenterte nicht zurück. Es schien noch weiter seeeinwärts zu schwimmen. So kamen die ja nie ans Ufer. Luise schaute noch eine Weile zu. Die Jungen schienen zu verzweifeln. Schließlich musste das Tretboot pünktlich zurückgebracht werden.
»Adrian, komm doch mal her. Da ist etwas los.«
Adrian stieg widerwillig an Deck. »Ach, die Kerle haben es geschafft. Ich habe sie noch schaukeln gesehen. Wir müssen wohl hinüberfahren und sie abschleppen. Hilfe auf dem See ist obligatorisch. Sicherst du die Weingläser?«
»Schon gemacht. Ich lichte den Anker.«
Adrian setzte sich ans Steuer. Los gings in geringem Tempo, um große Wellen zu vermeiden.
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