Allerdings stimmte die Begründung für Nadjas Alleingang, den er ihr genau erklärt hatte nicht hundertprozentig. Krüger hatte vor, den Fundort Annas nochmals ungestört aufzusuchen. Davon brauchte vorerst niemand etwas zu wissen. Auch Nadja nicht. Noch kannte er sie kaum. Falls er wider Erwarten einen relevanten Fund erzielte, würde er sein Umfeld selbstverständlich einweihen. Oder andernfalls die Sache einfach unter den Tisch fallen lassen. Außerdem ging es darum, sich die Loyalität der Beamten vor Ort zu erhalten. Die könnten seine Aktion leicht als Rückenschuss ansehen. Obwohl die damaligen Ermittlungen den Namen kaum verdienten, bedeutete dies nicht, dass man durch ernsthafteres Suchen zwangsläufig weitere Indizien gefunden haben müsste.
***
Diesmal fuhr Krüger selbst. Zuvor hatte er sich bei der Fahrbereitschaft einen Geländewagen und bei der Spurensicherung einen Metalldetektor besorgt. Seine neue Stellung ermöglichte dies ohne klare Angaben, wozu er die Ausrüstung benötigte. Den Weg wiederzufinden, schaffte er nur dank seiner Kreuzchen auf der Luftaufnahme. Die direkte Erinnerung an den Ausflug mit Pickel und Nadja erwies sich als praktisch nutzlos. Die einheitlich braunen Stämme am Wegrand wiederholten sich unablässig. Egal, auf welchem Waldweg man sich bewegte.
Ein Aspekt, den man keinesfalls außer Acht lassen durfte, wenn man sich gedanklich in denjenigen versetzen wollte, der Anna hier deponiert hatte. Schon bloß diese Erkenntnis rechtfertigte den heutigen Aufwand, dachte er. Für einen Stadtmenschen wie ihn wäre es völlig unmöglich, sich in diesem Wald zurechtzufinden. Selbst ohne Leiche im Kofferraum.
Er parkte wie üblich ein Stück vor der Stelle. Die Reifenspuren am Wegrand von Pickels kompliziertem Wendemanöver zeigten ihm an, dass er richtig lag. Die Abdrücke wirkten so frisch, als ob sie erst von heute stammten. Hier im Wald dauerte jegliche Veränderung viel länger als in seiner gewohnten Umgebung, schloss Krüger daraus.
Er griff nach dem Detektor und stieg aus. Die Stille im Wald brachte ihn dazu, sich selbst so lautlos wie möglich zu verhalten. Ungewohnt, sogar irgendwie beklemmend. Was konnte er tun, wenn plötzlich ein Bär auftauchen sollte?
„Bären in Schramberg“, murmelte er vor sich hin. „So ein Blödsinn!“
Ein deutliches Rascheln ließ ihn erschauern. Allerdings kein Bär, sondern einige Rehe, die ein Stück entfernt vorbeihuschten. Er schüttelte den Kopf. Tatsächlich geschafft, sich selbst zu erschrecken.
Entschlossen schaltete er den Detektor ein, nachdem er sich einen der Ohrhörer eingesteckt hatte. Das andere Ohr wollte er sich lieber freihalten. Natürlich nicht um möglicherweise auftauchende Bären …
Ein Schlenker am Wagen vorbei zur Kontrolle entlockte dem Gerät einen an- und abschwellenden Signalton. Er nickte zufrieden. „Wenigstens macht das Ding keine Sperenzchen!“, murmelte er.
Wie vorgegeben, schlenderte er in regelmäßigen Bahnen hin und her, das Gerät vor sich schwenkend. Natürlich erschwerten die Bäume eine genaue, schachbrettartige Suche. Irgendwelche Zeichen, wo er bereits gesucht hatte, verkniff er sich. Außerdem versuchte er, gelegentlich vorkommende Kräuter oder andere kleinere Grünpflanzen unbehelligt stehen zu lassen. Schließlich wollte er Spuren suchen, nicht welche legen.
Nach und nach näherte er sich der Liegestelle. Pickel hatte sie durch einen hingelegten, flachen Stein markiert. Als Krüger den Suchteller darüber schwenkte, schlug das Gerät an. Natürlich grenzte er die Stelle sofort genauer ein. Auf dem Display blinkte ein Symbol, ein durchgekreuztes Hufeisen.
„Nichteisenmetall“, brummte Krüger. Offenbar genau unter dem Stein.
Moment! Das hatte er schon einmal erlebt. Da wurde er durch einen Stein, der offenbar irgendwelche Metallanteile in sich barg, zum Narren gehalten. Er griff nach dem Stein und legte ihn zur Seite. Erneut glitt die Spule des Gerätes über die Stelle. Das Signal blieb unverändert. Kein Zweifel, hier lag Metall in der Erde. Kein Eisen. Möglicherweise der Verschluss einer Aludose. Oder ein Kronenkorken, den ein durstiger Wanderer achtlos ins Gebüsch geschmissen hatte. Wahrscheinlich. Sehr wahrscheinlich sogar. Jedoch würde ein im Boden steckendes Geschoss vermutlich kaum ein anders geartetes Signal verursachen.
Was nun?
Wenn er zu graben begann, war es vorbei mit der Geheimhaltung. Den Waldboden konnte man nicht perfekt wiederherstellen. Falls er doch nur ein Stück belanglosen Müll erwischte, würde man ihm zu Recht vorwerfen, dass er wie ein Trottel gehandelt hatte. Das Gerät zeigte eine Tiefe von mehr als zwanzig Zentimetern an. Eine unauffällige Sondierung schloss sich damit aus. Andererseits, wie gelangte ein Stück Abfall so tief ins Erdreich? Die Antwort fügte sich gleich an. Manche Menschen vergruben nach einer Rast ihren Müll, um nicht erwischt zu werden.
Allerdings könnte eine auf eine liegende Person abgefeuerte Kugel …
Nadja wurde schnell klar, was in Pickels Abteilung fehlte. Eine weibliche Beamtin in begehrenswertem Alter, die sich gerne von den Kollegen bewundern und verwöhnen ließ. Die Beschreibung passte hervorragend zu ihr selbst. Natürlich arbeiteten auch einige Damen in den Büros der Etage. Jedoch ausnahmslos von der Sorte graue Mäuse, deren Fehlen kaum einem Mann auffallen würde.
Nicht nur Pickel und dessen Kollegen gaben sich beeindruckt von Frau Smolenska. Auch die beiden Praktikanten wirkten gleich nervös, sobald sie bloß an ihnen vorbeiging. Wobei der Ausdruck, gehen, dem Vorgang kaum wirklich gerecht werden konnte. Allerdings wollte Nadja nichts von denen. Ihr Ziel lag woanders. Auch Pickel selbst bedeutete nur einen Zwischenschritt. Der in den Akten erwähnte Eduard Schuster, damaliger Chef des Postens in Tennenbronn und damit Leiter der Ermittlung an Annas Fundort. Der genoss inzwischen seine Pension und konnte deshalb nicht einfach zur Auskunft aufgeboten werden. Oder unter Druck gesetzt, um eventuelle Fehler zuzugeben. Diese Dienststelle wurde kurz nach Schusters Abgang endgültig geschlossen. Mitarbeiter und Akten fanden in der Stadt Schramberg eine neue Bleibe.
Schusters heutige Wohnadresse hatte Pickel schon längst ausgeplaudert. Jetzt ging es für Nadja darum, einen Grund zu finden, um den Mann zu treffen. Absolut unverfänglich. Krüger hatte als oberstes Gebot gesetzt, so wenig wie möglich von den neuen Untersuchungen durchsickern zu lassen. Dies galt vor allem für Leute, die irgendwie an der Sache beteiligt gewesen waren oder auch gewesen sein könnten. Zu gegebener Zeit, beispielsweise um jemanden nervös zu machen, würde sich die Taktik entsprechend nutzen lassen.
„Sag mal, Waldi, was habt ihr früher eigentlich in Tennenbronn so gemacht, bevor es Internet gab. War das nicht grauenhaft langweilig?“ Nadja spitzte absichtlich zu und zwinkerte fast mit den Augen bei der Frage.
„Na hör mal!“, reagierte Kollege Pickel sofort, „denkst du etwa, uns sei damals nichts eingefallen?“
„Ja was denn zum Beispiel?“
Oswald, Waldi wie er sich gewünscht hatte, stutzte kurz. Darüber hatte er gar nicht nachdenken können. „Damals pflegten wir noch einen zünftigen Stammtisch“, begann er. „Im Alten Krug war immer etwas los. Nicht nur saufen. Wir haben auch ernsthaft diskutiert. Über Politik und …“
Nadja bleckte ihre wunderschönen Zähne. „Über Frauen?“, schob sie ein.
„Ja klar. Die Weiber. Ich meine natürlich die Damen!“ Er ließ einen krass abgehackten Lacher hören. „Waren öfters ebenfalls Thema. Ist ja auch keine einfache Sache, äh, Sorte oder?“
Sie wirkte irritiert und zuckte bloß mit den Schultern.
„Na, komm schon. Ist doch meistens Absicht, wenn ihr so, so schwierig herumzickt? Oder etwa nicht?“
„Absicht?“ Nadja wirkte echt erstaunt. „Was könnten wir denn damit beabsichtigen?“
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