“ Er war ein recht bedeutender Kapellmeister.”
“ Fabelhaft, das du dieses Wort gebrauchst. Mein Vater gebrauchte es selber gern, wenn es um seine Berufsbezeichnung ging.”
“ Woran denkst du, wenn du an ihn denkst.”
“ Er war warmherzig. Er hatte Humor. Er nannte sich gelegentlich einen musikalischen Kobold und Narren, mit Betonung auf letzterem. Ein Satz von ihm ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Humor sei Aspirin gegen den Kopfschmerz der Vergänglichkeit. “
“ War er nicht auch ein Bruckner Spezialist?”
“ Stimmt. Und er hatte, noch in seinen späten Jahren, eine gl ü hende Verehrerschaft. Er sah das allerdings mit einer gewissen Wehmut. Ich erinnere mich, wie er eines Tages sagte, von sich in der dritten Person sprechend, in seinem Alter werde man nicht verehrt für das, was man ist, sondern für das, was man einmal war.”
“ Ich habe gelesen, er habe sich lange geweigert, seine Aufführungen auf Tonträgern konservieren zu lassen. Warum eigentlich?”
“ Ich weiß es nicht. Er hatte diese Verweigerung mit einem anderen sehr bedeutenden Vertreter seines Fachs gemeinsam. Mein Vater meinte übrigens einmal: so man das Leben als Raum sieht, gelte es, diesen mit der eigenen Musik aufzufüllen; er war ferner der Auffassung, Musik werde weniger erfunden, als vielmehr entdeckt.”
“ Ein Hoffnungsschimmer für alle schöpferisch minderbegabten Geschöpfe.”
“ Lux, wie bist du jetzt eigentlich darauf gekommen, mich nach meinem Vater zu fragen?”
“ Weil dort hinten jemand sitzt, der ihm, wie ich finde, ein bisschen ähnlich sieht.”
“ Hm, die Wahrnehmungen sind ja doch unterschiedlich.”
“ Ich hätte an dieser Stelle darauf verwiesen, dass das Gleiche im Unterschiedlichen wohnt.”
“ Okay, mein Lieber, das sei dir unbenommen. Und jetzt verlasse ich dich für eine kleine Weile. Ich muss nämlich mal aufs Klo.”
Lux nutzt die Unterbrechung, um sich eine weitere Zigarette anzuzünden. Er unternimmt einen kurzen Anlauf, seine Gedanken neu zu ordnen. Es bleibt bei dem Anlauf.
“ Da bin ich wieder… Bestellen wir noch etwas?”
“ Aber vorerst bitte keinen Alkohol. Jedenfalls nicht für mich.”
“ Vollkommen deiner Meinung… Ich werde unsere reizende weibliche Bedienung rufen.”
“ Das ist sie, postbiblisch betrachtet - aufreizend reizend .”
“ Oder andersherum. Wir sollten es ihr bei nächster Gelegenheit zuraunen. Denn, wenn alte Männer jungen Frauen Komplimente machen…”
“ Ältere Männer.”
“ In Ordnung. Also, wenn ältere Männer jungen Frauen Komplimente machen, muss es ja nicht gleich etwas Anzügliches oder Forderndes haben. Und ich sage das als der triebhafte Pan, der ich nun einmal bin, pardon, ich meine natürlich, war.”
“ Muss es nicht, nein. Aber ist es nicht punktuell ein Widerspruch?”
“ Wie meinst du?”
“ Man kommt einander doch nicht näher, um sich voneinander zu entfernen.”
“ Du willst sagen, es bleibt in jedem Fall ein Annäherungsversuch?”
“ Nennen wir es einen Versuch, Nähe herzustellen.”
“ Hm, ja, man nähert sich als Fremdling, als Eindringling und möchte als Vertrauter, als Intimus verweilen.”
“ Im günstigsten Fall.”
“ Und im ungünstigsten Fall?”
“ Findest du Trost im Gebet. Das Falten der Hände bietet, so hört man, mannigfache Möglichkeiten der Tiefen-Entspannung.”
“ Das lässt mich spontan an unsere Schulhofpausen von früher denken, genauer gesagt, an so manche subtropische Ansage im Tertiärsektor.”
“ Ich ahne nur ungefähr, wovon du sprichst.”
“ Schau, da kommt sie!”
“ Heiß a , ja, da kommt sie!”
“ Die Herren wünschen noch etwas?”
“ Ganz recht. Und wir haben einen gemeinsamen Beschluss gefasst, mein Freund und ich.”
“ Ja, bitte?”
“ Wir möchten Ihnen in aller Zurückhaltung sagen, dass Sie eine Augenweide sind.”
“ Danke schön. Und womit kann ich sonst noch dienen?”
“ Dienen… dieses Wort aus Ihrem Munde - so schillernd. Nun, wir akzeptieren natürlich unsere Grenzen und die des guten Geschmacks, wenn das auch nicht immer ganz leicht fällt. Ich hoffe, Sie finden uns nicht allzu aufdringlich?”
“ Ich finde Sie recht amüsant.”
“ Was macht übrigens ihr junger sympathischer Kollege?”
“ Nett, dass Sie nach ihm fragen. Er hat Feierabend.”
“ Es soll ja niemand behaupten können, wir hätten etwas gegen eine Männerquote…Dürfen wir Ihnen einen Likör oder einen Brandy spendieren?”
“ Ich trinke nur Tee… wenn ich im Dienst bin.”
Während Lux sich, lediglich seinen Vorrat an Lächeleinheiten ausschöpfend, bedeckt hält, gibt sein Sitznachbar alles, um die Situation schmeichelhaft zu gestalten. Die Bedienung bleibt so gelassen wie die Fransen ihres blonden Haarschopfes. Die kleine Charme-Affäre hat nur einen Akt. Wie so viele Affären. Kaffee kommt für die beiden Freunde; für Lux, mit Rücksicht auf die eigene Libido, zusätzlich das hauseigene Dessert, warmer Grießpudding mit Johannisbeersoße. Und dabei ist ihm, für den Bruchteil einer kurzen Zeiteinheit, als wenn von drei vernommenen erotischen Obertönen sich zwei, und zwar in der Dauer, nicht jedoch in der Höhe, voneinander unterscheiden.
“ Ich habe mich noch gar nicht danach erkundigt, mein Freund, was du beruflich so machst oder gemacht hast.”
“ Dies und das. Rien de spécial, würde mein zweiter Halbbruder sagen, der Halbfranzose ist.”
“ Was genau muss man sich darunter vorstellen?”
“ Die letzten Jahre habe ich als freier Journalist gearbeitet, sofern man da von frei reden kann.”
“ Dann haben wir ja beinahe verwandte Tätigkeitsbereiche.”
“ Beinahe, ja.”
“ Und wie geht es dir heute, pekuniär gesehen, beispielsweise?”
“ Ich würde sagen, verarmter Nichtadel.”
“ Oh, das tut mir leid. Vielleicht könnte ich dir ja ab und an ein paar Aufträge zuschanzen, mein Lieber, sofern dir meine Arbeit liegt.”
“ Das ist sehr nett, Tony. Ich werde bei Bedarf darauf zurückkommen.”
Das Gespräch wird unvermittelt durch ein sanft surrendes Geräusch eingefroren. Es ist Tonys Smartphone. Er zieht es aus dem Jackett, einen entschuldigenden Blick in Richtung seines Gegenübers werfend. Lux bekommt mit, dass es sich um Tonys Tochter handelt, die, wie man einstmals gesagt hätte, am anderen Ende der Leitung ist. Man kommuniziert über Facetime . Im vierten oder fünften Satz des Dialogs zwischen Vater und Tochter findet auch Lux Erwähnung.
“ Ich sitze hier mit einem sehr guten alten Freund, mein Schatz. Soll ich euch kurz miteinander bekannt machen. Lux, bist du einverstanden, dass ich die Kamera auf dich halte?”
“ Nichts dagegen.”
Lux winkt lächelnd in Richtung Smartphone, dass Tony jetzt am ausgestreckten Arm über dem Tisch platziert. Was ersterer auf dem Display erblickt, ist eine recht junge oder jedenfalls jung erscheinende Frau mit Pagenfrisur. Sie lächelt ebenfalls und Lux denkt: Solche Zähne hätte ich auch gerne. Man begrüßt einander, und wenn da ein Wind wäre, der unangemeldet durch den Raum wehte, so wäre es vermutlich ein Frühlingswind.
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