Aber vielleicht würde es ja gar nicht so weit kommen. Sie würde unvoreingenommen und offen diesem neuen Lebensabschnitt entgegen sehen und sich selbst ein Bild machen. Zufrieden mit diesem Entschluss schaute sie aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Es war Anfang Oktober. Jetzt, gegen neun Uhr abends, war draußen bereits alles von der Finsternis der Nacht überzogen, nur noch hier und da konnte sie die Schemen einer besonders großen Tanne oder eines einsam gelegenen Gebäudes ausmachen. So hing Anna eine ganze Weile ihren Gedanken nach, bis sie plötzlich zusammen zuckte. Mitten in der Dunkelheit waren plötzlich zwei leuchtende blaue Punkte aufgetaucht. Sie schienen dem Zug zu folgen und kamen dabei immer näher und näher. Anna dachte sich zuerst nichts dabei und beugte sich ein wenig weiter vor, um die Ursache der beiden Punkte besser erkennen zu können. Die Punkte bewegten sich ein wenig auf und ab und waren dabei sehr schnell. Bald würden sie den Zug erreicht haben. Noch ein kleines Stück, und Anna starrte fassungslos nach draußen. Sie konnte eindeutig den Schatten eines großen, struppigen Wolfes erkennen, dessen blaue Augen böse zu ihr in den Zug zu funkeln schienen. Das waren also die beiden leuchtenden Punkte! Erschreckt rutschte Anna ein Stück weit vom Fenster weg und schielte mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengegend nach draußen.
Ein lautes Klopfen ließ Anna hochschrecken. Das Pochen wurde lauter. Die Stimme des Schaffners klang ungehalten durch die Tür zu ihr ins Abteil. „Wir sind gleich da! Bitte machen Sie sich zum Aussteigen bereit.“ Anna, die derart von der unheimlichen Aura des Tieres eingenommen war, brachte nicht einmal eine kurze Antwort zustande, sondern saß nur schweigend auf ihrem Platz und starrte hinaus. „Hallo! Haben Sie mich gehört? Der Zug hat nur zwei Minuten Aufenthalt in Rittertal!“ Mit einem lauten Quietschen wurde die altersschwache Abteiltür zur Seite geschoben und der Schaffner trat mit einem verdrießlichen Gesichtsausdruck ein. „Haben Sie gehört? Sie sollten schon mal Ihre Sachen zusammenpacken und sich zum Aussteigen bereit machen. Hallo? Wieso reagieren Sie denn nicht?“ Der Schaffner schien nun wirklich besorgt. Mit fragendem Gesichtsausdruck beugte er sich zu der immer noch aus dem Fenster starrenden Anna hinunter und folgte dann ihrem Blick.
Was er dann sah ließ ihn zusammenzucken. Doch auch das bemerkte Anna nur am Rande, viel mehr nahm die Anwesenheit des Wolfes ihre gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr folgte, nur an ihr interessiert war und sich nicht damit zufrieden geben würde, sie nur von außen zu beobachten. Als ob dieser Gedanke der Auslöser war, setzte der Wolf zum Sprung an. Anna erstarrte und beobachtete fassungslos jede seiner Bewegungen. Selbst als die Schnauze des Wolfes die Scheibe berührte und diese in tausend Stücke zerspringen ließ, war sie zu keiner Regung fähig. Hunderte kleinerer und größerer Splitter flogen in alle Richtungen. „Passen Sie auf!“ Beherzt griff der Schaffner, der ebenso wie Anna fassungslos aus dem Fenster gestarrt hatte, nach ihrem Jackenärmel und zog sie vom Fenster weg. Er selbst hatte ebenfalls seinen Kopf weg gedreht, schützend die Arme über sein Haupt geschoben und sich auf das Schlimmste eingestellt. Mit zusammengekniffenen Augen verharrten sie regungslos.
Doch nichts geschah. Als sie vorsichtig aufsahen, war der Wolf verschwunden. Stattdessen strömte durch den fensterlosen Rahmen die kalte Nachtluft herein und ließ sie frösteln. Doch war es nicht nur die Kühle der Nacht, die ihre Körper mit einer Gänsehaut überzog. Noch etwas Anderes war mit der eisigen Nachtluft herein gekommen. Anna spürte es sofort, noch bevor sie es sah. An der Stelle, an der sich eben gerade noch der bedrohliche Umriss des massives Tierkörpers befunden hatte, war nun nichts weiter als eine schwarz-graue Nebelwolke. Eine klirrende Kälte breitete sich im Abteil aus. Die dunkle Nebelschwade verdichtete sich immer mehr zu einem bedrohlichen Schatten. Mit dem Wolf war etwas herein gekommen. Etwas, das Anna nicht wohlgesonnen war. Ihr war, als lege sich eine unsichtbare, eiserne Hand um ihren Hals. Sie konnte kaum noch atmen, war von einer solchen Angst erfüllt, wie sie sie nie zuvor in ihrem Leben verspürt hatte.
Die Stimme des Fahrkartenkontrolleurs riss sie abermals aus ihren Gedanken. „Geht es Ihnen gut?“ Als Anna nur stumm nickte, schimpfte er los. „Verdammte Gören! Weiß der Teufel wie sie das wieder angestellt haben. Erst beschmieren sie die Züge und jetzt schlagen sie die Scheiben während der Fahrt ein!“ Kopfschüttelnd sah er sich um. „Was haben sie bloß geworfen? Können Sie irgendetwas finden?“ Mit der Fußspitze schob er einige der Glassplitter hin und her. „Haben mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Die dunkle Jahreszeit draußen hat ihr Übriges getan. Ich hatte doch für einen Moment den Eindruck da draußen verfolge ein großer wild aussehender Wolf den Zug und wolle zu uns ins Abteil springen. Leuchtend blaue Augen hat er gehabt. Können Sie sich das vorstellen? Ein Wolf, der blaue Augen hat und einen Zug verfolgt?“ Er lachte in sich hinein. „Es wird Zeit, dass ich in Rente gehe. Bin schon 64.“ Während er sprach hatte er mit einem verärgerten Gesichtsausdruck das Chaos im Abteil betrachtet, so dass ihm Annas erschreckte Reaktion verborgen blieb, als er erwähnte, einen Wolf gesehen zu haben. Er hielt es für Einbildung, wusste nicht, dass auch Anna denselben Wolf gesehen hatte. „Das wird teuer für die Eisenbahngesellschaft und wieder einmal gibt es keinen, den man zur Kasse bitten könnte.“ Er sprach mehr zu sich selbst, schien seinen jungen Fahrgast neben sich völlig vergessen zu haben.
Anna schluckte betreten. Sollte sie zugeben, dass auch sie denselben Wolf gesehen hatte? Doch selbst wenn sie den Zugbegleiter davon überzeugen konnte, dass es keine Einbildung war, wer sonst würde ihnen beiden glauben? Niemand! Sie würden nur wie zwei Narren da stehen. Verunsichert presste sie die Lippen aufeinander. Nein, sie würde nichts sagen. Ein Ruck ließ sie aufblicken. Auch der Schaffner schaute auf. „Der Lokführer hat bereits das Tempo gedrosselt, jetzt sind es nur noch ein paar Minuten bis Rittertal.“ Erleichtert über diese Information raffte Anna, immer noch von Panik erfüllt, ihre Sachen zusammen und ging Richtung Abteiltür. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt und viel Spaß beim Antiquitätenkauf! Obwohl es dafür noch zu früh ist. Der Antikmarkt öffnet jedes Jahr immer erst Ende Oktober.“
Irritiert drehte Anna sich noch einmal um. „Wie bitte? Was für Antiquitäten?“ Der alte Mann stutzte und betrachtete Anna mit zusammengekniffenen Augen: „Sie waren noch nie hier, nicht wahr? Wenn dieser Ort auch sonst ein gottverlassenes Nest mit einer grauenvollen Vergangenheit ist, so ist er doch berühmt für seinen Antikmarkt. In meinen ganzen 48 Dienstjahren habe ich noch nie jemanden auf dieser Strecke erlebt, der nicht den Antikmarkt kannte. Seit jeher überwintert hier eine uralte Händlerdynastie und richtet während der kalten Jahreszeit den Antikmarkt aus. Aus der ganzen Welt strömen die Besucher hierher! Das wissen Sie nicht? Was wollen Sie denn sonst hier?“ Anna war immer noch verwirrt. „Nein. Nein, ich… besuche hier jemanden. Vielleicht bleibe ich auch länger. Das weiß ich noch nicht genau.“ - „Länger bleiben? Du liebe Güte! Noch etwas, das mir in meinen 48 Dienstjahren noch nicht begegnet ist. Jemand, der auch noch freiwillig hierher zieht. Dann noch so jung. Außer einer Dorfkneipe gibt es hier nicht viel für junge Leute. Aber Sie werden schon sehen, was ich meine. Gucken Sie sich erst mal bei Tageslicht in Ruhe um, dafür dürfte es ja nun schon ein bisschen spät sein.“
Mit aufmerksamem Blick spähte er nach draußen. Der Zug fuhr gerade in das Dorf ein. Zumindest musste es das Dorf sein, das in diesem Tal lag und in dessen Mitte sich der Bahnhof befand, an dem man Anna abholen würde. Unscharfe Konturen unterschiedlich großer Gebäude zogen an ihr vorbei. Dank einer fehlenden Straßenbeleuchtung konnte sie nur Schatten erkennen. Dann endlich erhellten sich die Gleise vor ihr und gaben den Blick frei auf ein altes, einstöckiges Bahnhofsgebäude. Mit quietschenden Rädern hielt der Zug. Anna stieg mit ihren wenigen Habseligkeiten aus.
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