Im Gegenteil. Sie hielt sich sehr bedeckt mit Informationen über ihren familiären Hintergrund.“ - „Dann sollte ich das Erbe vielleicht besser ausschlagen.“ - „Oh, nein! Diesen Schritt sollten Sie gut überdenken. Wissen Sie, es handelt sich dabei um ein nicht unbedeutend großes Erbe, das überwiegend aus Grund und Boden besteht. Schuldenfrei. Gut erhalten. So viel vorab.“ Anna zog kritisch die Augenbrauen zusammen. „Was stimmt nicht mit dem Erbe?“ Allmählich wurde sie doch misstrauisch. Der Notar schaute sie sehr ernst an, bevor er tief seufzte und schließlich zu einer Antwort ansetzte. „Leider kann ich Ihnen dazu auch nicht mehr sagen, da das alle Informationen sind, die ich von Ihrer Frau Mutter zu diesem Punkt erhalten habe. Unglücklicherweise ist sie viel zu früh von uns gegangen, von ihrem Erbe hat sie leider nichts gehabt. Laut dem Testament ihres Vaters, also Ihres Großvaters, hat nur derjenige einen Anspruch auf die Pachteinnahmen u.s.w., der auch dauerhaft auf der Ritterburg lebt. Und das hat sich Ihre Mutter ja nun beileibe nicht vorstellen können. Im Gegenteil. Ihre Familie durfte zeitlebens nicht erfahren, wo sie sich aufhielt. Von Ihrer Existenz, Frau Wolfstöter, wissen die Verwandten bis heute nichts. Das war der Wunsch Ihrer Mutter. Sie hat ausdrücklich verfügt, dass ich erst dann Kontakt mit der Familie aufnehmen soll, wenn Sie sich für die Annahme des Erbes entschieden haben.“
Mit einem traurigen Lächeln schob er ihr einen übergroßen Briefumschlag entgegen. Das Papier war vergilbt, das Siegelwachs dunkelrot mit dem Abdruck irgendeines Wappens. Oder war es ein Symbol? So genau konnte Anna das nicht erkennen. Mit zitternder Hand griff sie nach dem Brief. Ein wenig mulmig war ihr doch zumute, als sie das Siegel brach und ein mindestens ebenso vergilbtes Blatt Papier herauszog. Sofort erkannte sie die schön geschwungene Handschrift ihrer Mutter.
Meine liebe Tochter!
Nun ist es geschehen! Da Du diesen Brief in den Händen hältst, bin ich von dieser Welt gegangen, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, Dich einzuweihen.
Einzuweihen in das düstere Geheimnis meiner, nein, unserer Familie. Zumindest teilweise. Alles werde ich Dir hier nicht mitteilen können, handelt es sich doch um Dinge, die nicht auf Papier gebracht werden sollten. Dinge, die Dein ganzes Leben verändern können und werden, falls Du - wie von mir befürchtet - das Erbe annehmen wirst.
Sollte Letzteres eintreten, hast Du Dich zweifelsohne von der Verlockung des Geldes verleiten lassen, die zugegebenermaßen groß sein wird, werde ich Dir doch nicht viel bieten können außer einem Leben in Freiheit. Einer Freiheit, die ich hier nicht näher beschreiben kann, die Du aber noch zu schätzen wissen wirst, solltest Du Dich für das Erbe entscheiden.
Auf den ersten Blick wird alles wunderbar erscheinen, Dir wird die Hälfte einer Ritterburg sowie die dazugehörigen Ländereien und Immobilien gehören. Jedoch hat es seinen Preis, einen unaussprechlichen Preis, der Teil des dunklen Geheimnisses unserer Familie ist und mich von meiner Familie wegtrieb.
Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, bin ich bereits fast zwei Jahre von meiner Familie weg. Zwei Jahre, in denen ich stets auf der Flucht war, Deinen Vater geheiratet habe, schwanger wurde und Dich geboren habe.
An keinem Ort bin ich länger als ein paar Wochen oder Monate mit Dir geblieben, zu groß ist die Angst, dass die Familie mich aufspürt und dann von Deiner Existenz erfährt. Die habe ich nämlich bis jetzt geheim gehalten. Das werde ich auch nicht ändern. Besser, sie wissen nichts von Dir!
Du siehst, noch hast Du die Chance, einfach das Erbe auszuschlagen und Deiner Wege zu gehen. Du wirst nicht reich sein, aber frei. Mein rastloses Leben hat nun ein Ende, viel werde ich Dir abverlangt haben, bevor Du ein eigenes Leben wirst beginnen können.
Deine Schulzeit wird von ständigen Umzügen gezeichnet sein. Selten wird es mal ein Jahr geben, in dem Du nur ein oder zweimal die Schule wirst wechseln müssen. Stets werde ich mit Dir auf der Flucht sein, hoffentlich ohne dass Du auch nur den leisesten Verdacht hegst.
Aber glaub mir, all das wird nur zu Deinem Besten sein, nur so kann ich Dich ohne den Einfluss unseres dunklen Familiengeheimnisses aufziehen! Ein dunkles Familiengeheimnis, das nicht gleich offenbar wird, jedoch wenn man länger auf der Burg verweilt.
Vielleicht bereits nach ein paar Wochen, eventuell aber auch erst nach einigen Monaten. Es ist so unglaublich, so gut geschützt, dass Du es vielleicht erst bemerken wirst, wenn es zu spät ist. Leider handelt es sich um ein Geheimnis, das man nicht aufschreiben kann.
So bedaure ich nun unendlich, Dir nicht früher alles erzählt zu haben. Wir hatten genug Zeit in all den Jahren, die seit dem Schreiben dieses Briefes und meinem Tod vergangen sein werden. Aber da Du jetzt diesen Brief in Händen hältst, werde ich offenbar all die Jahre nicht den Mut dazu gehabt haben, mich Dir anzuvertrauen.
Nun jedoch ist es zu spät dazu, jetzt kann ich nur noch darauf hoffen, dass Du die richtige Wahl triffst. Schlag das Erbe aus und pfeif auf das Geld. Dass Du mütterlicherseits noch eine Familie hast, solltest Du ebenfalls vergessen, auch verrate niemals jemandem, dass Deine Mutter eine geborene von Rittertal ist. Flieh meine Tochter, flieh, solange Du noch kannst!
Deine Dich liebende Mutter
Stumm starrte Anna auf das vergilbte Papier. Das hatte sie nicht erwartet. Ihre Mutter hatte diesen Brief vor über 20 Jahren geschrieben. Offenbar war sie in großer Furcht vor ihrer Familie. Eine Familie von deren Existenz Anna bisher nichts geahnt hatte. Wenigstens wusste sie nun, warum sie zeitlebens immer wieder umgezogen waren. Dieses rastlose Dasein hörte erst auf, als sie ausgezogen war um ihre Ausbildung zur Buchhändlerin zu absolvieren.
Mit einem tiefen Seufzer lehnte sie sich zurück. Das Geld konnte sie schon gebrauchen. Einen Versuch war es wert. Falls es ihr nicht gefiel, konnte sie immer noch zurück nach Berlin gehen. Trotzdem war ihr mulmig zumute. Warum hatte ihre Mutter all diese Entbehrungen auf sich genommen? Sie wurde nicht wirklich schlau aus ihren Zeilen. Doch handelte es sich um zu viel Geld, als dass sie den Versuch ungenutzt lassen würde. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck teilte sie dem Notar ihre Entscheidung mit, alles Notwendige zu veranlassen und verließ die Kanzlei in Richtung Bahnhof, um sich eine Zugfahrkarte zu ihrem neuen Zuhause zu kaufen.
Die Ritterburg befand sich in einer ziemlich einsamen Gegend, die von Berlin nicht leicht zu erreichen war. Dreimal war Anna während der fünfstündigen Zugfahrt bereits umgestiegen. Jetzt saß sie in einer alten Bummelbahn, die sie endlich an ihr Ziel bringen sollte. Das Dorf Rittertal. Es war eine verschlafene 400 Seelen Gemeinde, die versteckt in einem tiefen, bis heute unzugänglichen Tal lag und von einem großen Waldgebiet umringt war. In diesem Wald befand sich die Burg Rittertal. Eine ziemlich große Burganlage, in der es jedoch bis zum heutigen Tage weder Strom noch fließend Wasser gab. Ob sich das auch auf das übrige Dorf bezog wusste Anna nicht, bezweifelte dies aber, obwohl die Lage des Dorfes schon recht einsam war. Bis heute führten nur eine Zugstrecke und zwei sandige Straßen hinein bzw. hinaus. Ein Zustand, der die Gemeinde gerade in heftigen Wintern oft wochenlang von der Außenwelt abschnitt. Eine Zugverbindung gab es nur zweimal am Tag, morgens und abends.
In dem so genannten Spätzug saß Anna gerade und überflog immer wieder die Zeilen ihrer Tante, mit denen sie ihre bislang unbekannte Nichte willkommen geheißen und ihr angeboten hatte, sie bei ihrer Ankunft am Bahnhof Rittertal abzuholen. Anna hatte den Brief kurz vor ihrer Abreise über ihren Notar erhalten. Ihre Tante hatte den Brief nicht an die Privatadresse ihrer Nichte geschickt, sondern an den Notar, der seinerseits alles an Anna weitergeleitet hatte. Zuerst hatte sie es als unsinnig empfunden, nachdem der Notar die Familie ihrer verstorbenen Mutter von der Annahme des Erbes durch Anna informiert hatte, die weitere Korrespondenz noch über die Kanzlei laufen zu lassen. Doch der Notar hatte sie überzeugt, erst mal alles weiterhin über ihn abzuwickeln. Im Nachhinein betrachtete Anna seine Einwände sogar als nicht unbegründet. Selbst wenn der Brief ihrer Tante freundlich klang und sie wirklich willkommen war, konnten weder der Notar noch sie selbst die Furcht ihrer Mutter vor ihrer Familie und deren düsteren Geheimnissen leugnen. Was auch immer ihre Mutter damals aus Rittertal vertrieb, es schien so bedrohlich zu sein, dass sie es Zeit ihres Lebens fürchtete. Sollte Anna auch irgendwann so empfinden, durch was auch immer ausgelöst, wäre es besser, wenn sie in ihre Heimat Berlin zurückkehren konnte, ohne dass man auf Burg Rittertal von ihrem genauen Aufenthaltsort in der Hauptstadt wusste. Berlin war groß mit seinen mehreren Millionen Einwohnern. Nur zu wissen, dass sie aus Berlin stammte würde etwaigen Verfolgern keine Hilfe sein.
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