„Komm lass uns die anderen rausschmeißen, dann haben wir unsere Ruhe.“
Nachdenklich stimmte Frank mit einem kurzen Kopfnicken und einem wohlwollenden Lächeln den Worten von Sarah zu. Er küsste sie, umarmte sie und beide machten sich auf, ihre in Aufbruchstimmung befindlichen Eltern, den Pfarrer und Sina zu verabschieden. Während das bei Sina und dem Pfarrer mit einem kurzen Dankeschön und einem beiläufigen Winken relativ rasch ging, Gustav sowieso schon wieder auf dem Liegestuhl vor seinem „Stall“ kauerte und Franzi wild gestikulierend irgendwelche haarsträubende Geschichten erzählte, warteten ihre Eltern schon sehnsüchtig, dass Frank und Sarah sich ihnen zuwandten.
„So mein Mädchen, dann bist du uns erst mal eine Weile los. Ab jetzt legt Papa sich auf die faule Haut.“
Ein bisschen sehnsuchtsvoll schaute Sarah ihren Vater an, während sie sich in seine ausgestreckten Arme fallen ließ.
„Glaubst du, dass du das hinbekommst, so ganz ohne Arbeit? Drei Monate an der Nordsee ohne Telefon, jeden Morgen ausschlafen, keine Termine, den ganzen Tag mit Mama?“
Skeptisch schaute Herbert drein.
„Ganz ohne Arbeit? Ja! Ohne Telefon? Ja! Jeden Morgen ausschlafen? Auch! Den ganzen Tag mit deiner Mutter…? Da bin ich noch skeptisch.“
„Na sage mal…, was soll denn das heißen?“
„War doch nur ein Scherz. Ich war doch mein halbes Leben den ganzen Tag mit deiner Mutter zusammen, außerdem, gesagt ist gesagt. Ich hab’s ihr nun mal versprochen. Davon abgesehen, Telefon habe ich ja mit, und du? Kriegst du das morgen hin?“
„Du kannst nicht aufhören, willst immer alles wissen. Hast wohl wieder gelauscht?“
„Man kann eben nicht alles von heute auf morgen ablegen. Ruhestand hin, Ruhestand her, du bleibst nun mal meine Tochter.“
„Was soll mir denn noch groß passieren? Außerdem ist Frank ja bei mir, da werde ich mich schon benehmen.“
„Na dann…“
Sarah drückte ihrem Vater einen dicken Schmatzer auf, wischte ihm zart über die Wange und rückte sein Schlips zu Recht.
„Danke nochmal. Danke, dass du das hier alles gemanagt hast.“
„Los jetzt!“, rief Herbert seiner Frau und Franks Mutter zu, als hätte er Sarahs Worte nicht vernommen. „Schnappt euch Franzi und dann los.“
Selbst Gustav wuchtete sich noch mal aus seinem Liegestuhl, obwohl er solche Abschiedsarien eigentlich nicht mochte. Mit seinem Zigarrenstumpen im Mundwinkel stellte er sich zu Sarah und Frank, die dem davonfahrenden Wagen hinterhersahen.
„Jut.“
„Was ist gut?“, wandte Sarah sich an Gustav.
„Jut, wenn die dann endlich wieder abhauen.“
„Gustav.“ Mit einem nicht ganz ernst gemeinten Klaps gegen Gustavs Arm quittierte Sarah das störrische Gebrabbel.
„Naja, is doch so. Stadtmenschen. Ick hab ma schon so an det ruhige Leben gewöhnt. Ein Jequatsche, ein Jequietsche, eine Hektik…, nee…, ick brauch meene Ruhe. Und deshalb lass ick euch jetzt och alleene. Kiekt euch noch ruhig an wie die abhauen, aber achtet druf, dass die och wirklich weg sind.“
„Mach’s gut Gustav.“
Sarah schaute noch kurz dem alten Brabbler hinterher um sich dann liebevoll an Frank zu lehnen. Sie beobachte, wie er sehnsuchtsvoll seiner Tochter hinterherschaute, die wild gestikulierend von der Rückbank winkte.
„Morgen seht ihr euch ja wieder.“
„Ja, aber dann sehe ich dich nicht.“
„Tja, so ist das mit zwei Frauen. Außerdem bin ich doch morgen mit dir.“
Nachdenklich lauschte Frank Sarahs Worten, Sein Blick verharrte die Dorfstraße hinunter, wo außer einer Staubwolke in der abendlichen Dämmerung nicht viel zu sehen war.
Nervös trommelte Sarah mit ihren Fingern auf dem brusthohen Tresen am Empfang herum.
„Warum dauert das so lange?“
„Weil der Herr Polizeidirektor nicht immer kann, wie er will. Außerdem sind Sie zu früh.“
Verunsichert schaute Sarah in das Gesicht der netten Empfangsdame.
„Sie wollen mich ja nur beruhigen.“
„Ja das will ich. Außerdem, wenn ich ehrlich bin, nervt ein wenig ihr Getrommel.“
Sarah hielt inne. Ein kurzer Blick zu Frank, der nicht unweit neben ihr stand, ein kurzes Nicken seinerseits und ein skeptischer Blick von ihm, bestätigte ihr, dass die junge Frau wohl Recht zu haben schien. Sarah blickte hoch zu der Uhr an der Wand. Noch 12 Minuten, viel zu früh. Die Dame am Empfang folgte Sarahs Blick mit einem verschmitzten Lächeln.
„Ganz genau, wenn beide Zeiger ganz oben stehen, dann spätestens kommt der…“
„Ja, ja, ja…“, unterbrach Sarah die Frau. „…ich hab‘s ja verstanden.“
„Sarah?“
Eine leise Stimme, ließ Sarah zusammenzucken. Ihr lief ein eiskalter Schauer den Rücken herunter. „Fender, mach kein Quatsch“, waren die letzten Worte die sie von dieser Stimmlage vernahm. Dem ersten Schreck folgte unbeschreibliche Wut. Ihr geschultes Polizeigehör konnte sofort ermessen, wie weit sich derjenige zu dem die Stimme gehörte, von ihr entfernt befinden musste. Sie war sich sicher, dass das genau der richtige Abstand sei um gleich auszuholen.
Noch während Sarah sich mit dem Gedanken befasste, war ihr der Körper schon voraus. Aus einer kurzen Körperdrehung heraus streckte sich unter dem entsetzten Blick von Frank ihr Arm zu voller Länge aus und Sarahs geballte Faust landete in dem Gesicht, das zu dem hünenhaften Kerl gehörte, der Sarah vorsichtig angesprochen hatte. Im Nu war es mucksmäuschenstill. Kein Gerede, kein Telefongeklingel, kein Nichts. Ruhe im ganzen Foyer und alle starrten sie an. Keiner hatte einen Blick für den Kerl, der gerade von einer fast um einen Kopf kleineren Frau mit einem einzigen Fausthieb dahingestreckt wurde. Ruhe. Sarah hasste Ruhe. Schon mal, weil sie das laute Klicken der Zeiger vernahm, welche ihr Wissen ließen, dass es gleich 12.00 Uhr sein musste und der Polizeidirektor jeden Augenblick erscheinen konnte. Bernhard war immer pünktlich.
„Büttner.“
Der Kerl, der eben noch einen Meter von ihr weg auf dem Fußboden lag, erhob sich langsam. Frank hatte sich mittlerweile vorsorglich zwischen die beiden postiert. Mit ausgestrecktem Arm deutete er Büttner an, sich zurückzuhalten.
„Mach jetzt kein Quatsch.“
„Nein, nein, keine Angst. Ist schon okay.“
Frank nahm langsam seinen Arm herunter und wandte sich Sarah zu. Sie zitterte am ganzen Leib und hielt sich schmerzverzerrt die rechte Hand.
„Scheiße Büttner, geh mir aus den Augen. Jetzt habe ich mir an deiner Visage fast noch die Hand gebrochen.“
„Sarah…“
„Man, halt deine…“
„…es tut mir leid.“
Sarah hielt inne. „Was tut dir leid, dass mit meiner Hand? Ich habe noch eine und die kommt auch gleich angeflogen.“
„Ich will mich bei dir entschuldigen. Ich kann mit dir mitfühlen. Seit dem Abend geht’s mir…“
„Was?“
„Was?“
Fast im Einklang reagierten Frank und Sarah überrascht auf das, was sie da gerade von Büttner zu hören bekamen. Keiner der Beteiligten merkte, dass mittlerweile Bernhard Kuntz im Foyer angekommen war. Während er dem herangeeilten Sicherheitsbeamten andeutete nicht eingreifen zu müssen, verfolgte er aufmerksam den Disput.
„Ich mach mir seitdem Vorwürfe…“
„Vorwürfe? Zwei Jahre lang machst du dir Vorwürfe?“, wurde Büttner erneut von Sarah unterbrochen.
Frank merkte wie Sarah begann, an seinem ausgestreckten, schützend vor ihr gehaltenen Arm zappelig zu werden. Sie schäumte vor Wut und es schien als würde sie dem Kerl gleich an die Kehle springen. Behutsam aber wirkungsvoll drückte er sie zurück, während er Büttner vorwurfsvoll anschaute.
„Sag mal, hast du noch alle Latten am Zaun? Wovon redest du?“
„Ich weiß nicht wie ich es sagen soll, aber…, es tut mir so…, ich mach mir solche Vorwürfe.“
Читать дальше