Charlotte knetete indes unruhig ihre Hände. „Es tut mir wirklich, wirklich leid, aber Sie müssen mir glauben, dass ich Sie nicht mit Absicht getäuscht habe. Mir passieren öfters solche Dinge. Ich bin einfach… einfach zu tollpatschig. Aber ich habe meine Zeugnisse und mein Diplom in meinem Gepäck. Daran können Sie sehen, dass meine Noten genau die sind, die ich Ihnen geschrieben habe. Ich meine, ob ich nun ein Mann oder eine Frau bin, tut doch nichts zur Sache. Am Ende. Oder?“ Mit einem reichlich verzweifelten Lächeln schaute die blonde Frau in die Runde.
„Nuja, nuja…“, stotterte der Bürgermeister schließlich. „Aber Se sind ne jungsche Frau un wir könn Se nisch allein in dem Haus wohn laschen. Un wir dachten, dass jetz ma jemand kommt, der bei den Kindern so rischtich durschgreift.“ Malbeth sah reichlich hilflos aus, doch zumindest in einem Punkt konnte seine neue Schulmeisterin ihn beruhigen.
„Oh, aber ich werde doch nicht alleine wohnen. Meine Mutter, Mrs. Van Halen, ist mit unserem Hausrat auf dem Weg hierher und wird in wenigen Tagen eintreffen. Und was die Kinder angeht: Ich bin mir sicher, dass wir bald die besten Freunde sein werden.“
Am Ende war Bürgermeister Malbeth gegen so viel guten Willen und Beredsamkeit machtlos, auch wenn seine Vorstellung von Unterricht nicht gerade die war, dass die Lehrerin gut Freund mit den Kindern war. Er zuckte mit den Schultern und schaute flehentlich zu Mrs. Trudi und dem Pfarrer. „N neuen Lehrer wern wir wohl uff die Schnelle nisch kriegen un die Schule muss ja wieder losgehen…“
Auch die rundliche Arztgattin und der Pfarrer nickten zustimmend, während Letzterer eifrig beipflichtete: „Und die Sonntagsschule nicht zu vergessen. Ich meine, Mrs. Aldridge sollte schnellstens von dieser Aufgabe entbunden werden, um sich wieder anderen kirchlichen Diensten zuwenden zu können. Ihre helfende Hand fehlt an allen Ecken und Enden.“
„Das ist alles schön und gut, aber solange Miss Van Halen allein hier ist, kann sie nicht in dem Haus wohnen. Eine junge Dame ohne Begleitung… Das schickt sich nicht“, warf jetzt Trudi McAbberty ein. Miss Van Halen wollte schon widersprechen, dass sie sehr gut auf sich allein aufpassen könnte, aber sie kam gar nicht zu Wort. Der rothaarige Pfarrer hatte auch für dieses Problem sofort eine Lösung parat. „Nun, ich würde Miss Van Halen gern Unterschlupf in meinem Pfarrhäuschen gewähren. Die Kirche bietet allen Seelen in Not ihren Schutz an und meine geistliche Stellung macht mich über alle Zweifel erhaben.“ Es war sogar für den nicht geistig nicht allzu regen Bürgermeister offensichtlich, dass der Reverend Gefallen an der neuen Schulmeisterin gefunden hatte. Sein begehrlicher Blick sprach Bände und schien so gar nicht über alle Zweifel erhaben. Malbeth wollte schon Einspruch gegen dieses Angebot einlegen, doch Mrs. Trudi war schneller.
„Das kommt gar nicht in Frage. Erinnern Sie sich noch daran, was die Leute alles getratscht haben, nur weil die gute Finney sich vor Luke Sullivan geworfen hat, um ihn vor dieser Kugel zu bewahren? Nein, ich denke Miss Van Halen sollte bei Eugenia Straight bleiben, bis ihre Mutter hier eintrifft. Die alte F… Ich meine, Miss Frocker hat dort auch zur Untermiete gewohnt und Eugenia wird sicher nichts dagegen haben, Miss Van Halen in deren altem Zimmer unterzubringen.“
Der Bürgermeister stotterte eine Zustimmung, und bevor Charlotte so recht wusste, wie ihr geschah, hatte Green Hollows Gemeinderat auch schon über sie und ihre Zukunft entschieden.
„Ja, Miss, dann herzschlisch willkomm in Green Hollow!“ Lächelnd streckte ihr der Bürgermeister nochmal die Hand entgegen, die die junge Frau nun erleichtert ergriff. Selten war eine ihrer kleinen Schusseligkeiten so glimpflich für sie ausgegangen.
Damit haben wir Blacky im Handumdrehen vom Dach geholt!
Miss Van Halens Zimmer bei der Witwe Straight, die im Herzen der kleinen Stadt wohnte, bot einen großzügigen Ausblick über Green Hollows Hauptstraße. Interessiert ließ die Lehrerin den Blick über ihre neue Heimat schweifen. Rechts neben dem Haus der Witwe befand sich das Green Hotel und ein Stück die Straße hinunter, auf der anderen Seite, sah sie ein großes Haus mit einer Art Scheune, das laut des riesigen Schildes Plockton's Warehouse war. Gegenüber davon wohnte der örtliche Arzt, Dr. McAbberty, dessen Frau sich ja gestern so nett um ihre Unterbringung gekümmert hatte.
Charlotte ließ ihren Blick weiter in die andere Richtung wandern, bis er schließlich an einem großen Gebäude mit dem Namen „Gemstone“ hängen blieb. Sie hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handelte, aber da so früh am Morgen bereits einige Männer dieses Haus verließen, war es vielleicht eine Art Pension. Nun, einerlei, sie musste sich beeilen und sollte nicht die Zeit verträumen. Die seltsame Witwe Straight hatte ihr gestern gesagt, dass es um Punkt acht Uhr Frühstück geben würde. Wenn sie bis dahin nicht am Esstisch wäre, dann müsste sie sich selbst um ihre Mahlzeit kümmern. Miss Van Halen seufzte. Und das konnte dann nur in einer weiteren Katastrophe enden. So gut ihre Noten am College auch gewesen waren, in der Küche war sie, wie in den meisten anderen Bereichen des täglichen Lebens, eine Katastrophe. Und auch wenn Miss Charly von der anstrengenden Fahrt in der Postkutsche gestern reichlich erschöpft war, war die Neugier auf ihr neues zu Hause doch größer als der Wunsch, sich einen Tag Ruhe zu gönnen. Als sie die Treppen zum Esszimmer hinunter eilte, lag bereits wieder ein fröhliches Lächeln auf ihrem Gesicht. Weder der Gedanke an ihre eigenen Unzulänglichkeiten noch die Erschöpfung konnten ihre Unternehmungslust dämpfen.
„Guten Morgen, Mrs. Straight“, grüßte sie gutgelaunt, als sie die letzten zwei Stufen ausließ und von der Treppe sprang. Was ihr einen missbilligenden Blick der Witwe eintrug.
„Morgen, morgen… Was kümmert mich morgen, wenn doch nur schon heute herum wäre“, knurrte die Dame des Hauses und verschwand mit einer Kaffeekanne im Esszimmer. Miss Charly schaute ihr verblüfft nach, denn sie konnte sich keinen Reim auf diese seltsamen Worte machen, die in so gar keinem Zusammenhang mit ihrem Gruß zu stehen schienen.
Schulterzuckend ließ sie es dabei bewenden und gesellte sich zu der Witwe an den Esstisch, wo sie sich akribisch über ihre Tagespläne ausfragen lassen musste. Doch da Charlotte von Natur aus ein mitteilsamer Mensch war und keinen Grund sah, warum sie Eugenia Straight nicht von allem erzählen sollte, was sie vorhatte, berichtete sie gutgelaunt, dass Mr. Malbeth ihr heute die Schule und ihr zukünftiges Heim zeigen wolle.
Bei der Erwähnung des Hauses zog Mrs. Straight dann allerdings ein bitteres Gesicht und Charlotte musste gleich darauf eine Strafpredigt über sich ergehen lassen, dass es unschicklich wäre, als junge, alleinstehende Frau in der Postkutsche zu reisen. Ohne Begleitung!
Auch wenn Miss Van Halen dem plötzlichen Gedankensprung vom Haus zu ihrer Reise nicht ganz folgen konnte, ließ sie alles mit demütiger Miene über sich ergehen. Charlotte versuchte gar nicht erst, sich zu rechtfertigen. Sie kannte diese Art von Vorhaltungen bereits von ihrer Mutter und wusste, dass auf solche Zurechtweisungen nicht unbedingt eine Antwort erwartet wurde. Die Gardinenpredigt diente wohl eher dazu, dass die Schimpfende sich Luft machen konnte.
Nachdem Eugenia Straight sowohl ihre Neugier als auch ihren Drang jemanden zurechtzuweisen befriedigt hatte, musste Green Hollows zukünftige Lehrerin sich die lange Litanei von Mrs. Straights unzähligen körperlichen Leiden anhören. Aber auch diese Prüfung bestand Miss Charly mit Bravour. Es gab nicht viel, was ihr die gute Laune verderben konnte.
Um zehn Uhr stand dann wie verabredet der nuschelnde Bürgermeister vor der Tür und nahm Miss Van Halen unter seine Fittiche. Sie besichtigten das kleine, aber ordentliche Schulhaus von Green Hollow, das Charlotte in einen wahren Begeisterungssturm versetzte und sie veranlasste, wie ein kleines Mädchen in die Hände zu klatschen.
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