‚Eigentlich erstaunlich‘, dachte das Mädchen, ‚dass so etwas Zartes eine so riesige Spinne tragen kann.‘ Doch lange konnte sie darüber nicht nachdenken, denn soeben traf der erste Stein eine der Spinnen, genau die, die sich am Netz zu schaffen machte. Mit einem Zischen fuhr sie herum und ihre Augen suchten den Gegner. Ihre Klauen klackten gegeneinander, was unheimlich in der plötzlichen Stille klang. Weitere Steine flogen und trafen nacheinander alle Spinnen, lockten sie ins Freie. Glücklicherweise, es wäre kritisch geworden, wenn sie in die Höhlen gekrochen wären. Doch auf die Idee schienen sie nicht zu kommen.
Mit einem Mal wimmelte es auf der Lichtung. Zehn Spinnen und deren Beine krabbelten über den Schnee und versuchten, die Angreifer ausfindig zu machen. Gaagis Gruppe hatte sich etwa um die Hälfte der Lichtung verteilt und sie feuerten nun eine regelrechte Salve an Steinen auf die Spinnen. Das Fauchen der riesigen Achtbeiner verstärkte sich, und mit einem Mal – beinahe wie abgesprochen – bewegten sie sich auf ihre Angreifer zu, klackten warnend mit ihren Greifwerkzeugen.
„Rückzug!“, erscholl Gaagis Stimme, und Yas konnte sehen, wie die Männer in Richtung der Baumgruppe losliefen, zunächst noch etwas langsamer, um die Spinnen zu ermutigen, die Verfolgung aufzunehmen, doch sobald sie dessen sicher waren, deutlich schneller.
Sobald die letzte Spinne außer Sichtweite war, gab Yas das Zeichen und sprang vom Baum aus direkt auf eines der Halteseile. Sie schnitt es mit einiger Mühe ab, klammerte sich dabei daran fest, sodass sie wie an einer Liane in die Mitte der Lichtung schwingen konnte. Rasch hangelte sie sich nach oben und saß nun auf dem Faden, der nahe an der Mitte und direkt neben einem der Kinder verlief. Mit ihrem Messer schnitt sie das Bündel erst einmal aus dem Netz frei. Die Spinnenfäden waren zäh, selbst mit dem guten Messer ihres Vaters nicht leicht zu durchtrennen. T'iis machte gerade das Gleiche bei dem zweiten Bündel. Ein drittes Bündel, das deutlich größer als eines der Kinder war, wurde von Jack aus dem Netz befreit.
„Okay, wir haben sie!“ Jack wirkte mehr als erleichtert, aber dennoch angespannt, da sie nicht wussten, wie viel Zeit sie hatten, bevor die Spinnen zurückkamen. „Bringen wir sie aus unmittelbarer Sichtweite, bevor wir sie auspacken.“
Yas nickte und sie folgten Jack, wobei zwei Männer das größere Bündel und je einer die kleineren trugen. Sie gingen nur wenige hundert Yards, dann machten sie Halt und befreiten die Gefangenen. Eliza und Acron waren blass und schienen zu schlafen, daher legte Yas ihnen nacheinander die Hand auf die Stirn und den Brustkorb, bis sie wieder tiefer atmeten und die Augen aufschlugen. Kellan schlang die Arme um beide Kinder, drückte sie fest an sich. Ihm liefen einige Tränen der Erleichterung über die Wange. Im dritten Bündel entdeckten sie den Grund, warum die Wölfe hier waren, denn ein junger Wolf, ganz in weiß, kam zum Vorschein. Yas nahm sich auch Zeit für ihn und schnell war er wieder auf seinen Beinen. Oder besser sie, denn Yas erkannte schnell, dass es sich um eine junge Wölfin handelte. Sie streichelte beruhigend über das schneeweiße Fell und Yáhzí leckte über den Kopf des Tieres.
„Du bist wunderschön, kleine Wölfin.“, murmelte Yas leise. „Was hältst du davon, wenn ich dich Akemi, die Schöne, nenne?“ Ein kurzes Wiffen und die Zunge, die über ihre Nase strich, brachten das Mädchen zum Lachen, und sie nahm es als Zustimmung. Plötzlich änderte sich die Stimmung schlagartig, Yas, Akemi und Yáhzí spannten sich an.
„Verschwindet mit den Kindern, die Spinnen kommen zurück!“, warnte die Halbelfe. „Sie sind bereits auf unserer Fährte! Eilt euch!“
Jack, Kellan und die beiden anderen Männer aus dem Dorf griffen nach den Kindern und rannten los. Yas, T'iis und die beiden Wölfe wandten sich in die andere Richtung, entschlossen, die Spinnen aufzuhalten. Tatsächlich dauerte es nicht einmal eine Minute, bis die erste Spinne auftauchte. Auf einem Hügel zeigten sich zuerst die Vorderbeine einer Spinne, die immer größer wurden, und schließlich schob sich der massige Leib über die Kante. Sie wurde flankiert von zwei weiteren Spinnen, die ein wenig hinter ihr auftauchten.
Hastig blickten die beiden Zweibeiner herum, aber es schienen nur die drei Spinnen zu sein, nicht mehr. Trotzdem mehr als genug für sie, waren sich Yas und T'iis sehr bewusst. Sie zogen ihre Messer und stellten sich nebeneinander, entschlossen, nicht nachzugeben. Knurrend standen die beiden Wölfe rechts und links von ihnen, das Fell aufgestellt und die Lefzen zurückgezogen, die Ohren angelegt und die Rute drohend lang nach hinten gestreckt, mit gesträubtem Fell.
Langsam näherten sich die Spinnen und sie wirkten nicht im Geringsten eingeschüchtert. Entschlossen richteten sich Yas und T'iis auf, die Messer in Angriffsstellung. Sie würden hier durchhalten, um diejenigen zu schützen, die sich auf sie verließen. Sicher waren Gaagi und einige der Diné auf dem Weg zu ihnen, sobald sie erkannten, dass nicht alle Spinnen in die Falle gingen. Doch bis dahin mussten sie aushalten.
Verzweifelt versuchte Yas, die Wurzeln der Bäume um sie herum zu beeinflussen, um die Spinnen zu Fall zu bringen oder aufzuhalten, doch es war wirkungslos, sie war einfach zu jung dafür. T'iis holte seinen Bogen vom Rücken und schoss Pfeil um Pfeil, versuchte dabei, die Augen der Spinnen zu treffen. Zwar landete er mehrere Treffer, aber die Spinnen wurden deshalb nicht langsamer. Als sie zu nahe waren, um den Bogen noch einsetzen zu können, schwang er ihn zurück auf seinen Rücken, zog das Messer aus dem Gürtel.
Yas verteidigte sich bereits gegen eine der Spinnen, während die Wölfe mit ihren scharfen Zähnen eine weitere Spinne an zwei gegenüberliegenden Beinen gepackt hatten und nun daran zerrten. Die Zwölfjährige schaffte es, eines der Beine am Gelenk abzutrennen, doch die Spinne ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern versuchte, Yas mit ihren Greifwerkzeugen zu packen. Mit dem Messer stach das Mädchen immer weiter auf die Spinne ein, glitt jedoch an der gepanzerten Haut ab und musste aufpassen, sich dabei nicht versehentlich selbst zu verletzen. Die Spinne schaffte es, ihr eine kleinere Verletzung am Arm zuzufügen, doch Yas ließ ihr Messer nicht los, stach weiter zu.
T'iis hingegen hatte es geschafft, die Spinne zu blenden, indem er ihr in die Augen stach. Dabei war er allerdings einen Moment unaufmerksam gewesen, sodass die Spinne ihn zu Fall brachte. Hastig rollte er sich herum und stieß mit dem Messer nach oben, da er sich daran erinnerte, dass der Bauch weniger geschützt war. Doch die Spinne ließ das natürlich nicht einfach so geschehen und versuchte, ihn mit den Greifwerkzeugen vor ihrem Maul zu erwischen.
Immer wieder musste T'iis sich auf die andere Seite rollen und kam dabei ziemlich außer Atem, obwohl er eigentlich recht fit war. Doch mit einem Mal bot sich ihm die Gelegenheit. Unten am Bauch der Spinne erkannte er, dass in der Mitte des Leibes eine Art Naht zwischen zwei Platten verlief. Er sprang auf, ignorierte den brennenden Schmerz in seiner Wade, wo sich eine der Klauen der Spinne hinein grub, und steckte das Messer bis zum Heft in den schmalen Spalt. Mit Gewalt zog er es bis zum Hinterleib der Spinne. Eine ekelerregende Mischung aus Körperflüssigkeiten quoll aus dem Schnitt und T'iis musste die Luft anhalten, um den Gestank nicht einzuatmen, sonst würde er möglicherweise bewusstlos. Einen Moment stand die Spinne vollkommen still, dann durchlief ein Zittern den riesigen Leib und sie brach zusammen.
T'iis blickte sich nach den Wölfen und Yas um, erkannte, dass das Mädchen in Gefahr war. Hastig schüttelte er den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, und sprang ihr zu Hilfe. Die beiden Wölfe schienen die Spinne tatsächlich zu Boden ringen zu können und waren für den Moment in der besseren Position. Yas hingegen war in die Defensive gedrängt worden. Der Diné täuschte einen Angriff an und rollte sich in dem Moment, als die Spinne zurückschlagen wollte, unter ihren Körper. Den kurzen Moment der Verwirrung nutzte er, um sein Messer genau wie bei der ersten Spinne in den Spalt zwischen den beiden Platten zu stoßen und den gesamten Leib aufzuschneiden.
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