Clown gerufen wurde, und seine fünf Geschwister lebten dort. Doch nie würde er von seiner Sehnsucht sprechen. Nur die Mehlschwalbe, die den Frühling auf seinen Reisen begleitete, wusste von der Sanftmut hinter den Krallen und Zähnen. Erst kürzlich hatte sie den Grauen Kater seufzen und im Schlaf sprechen hören, wie er sich nach Freunden sehnte, mit ihnen Abenteuer zu erleben, über seine Einsamkeit zu reden. Sie behielt ihr Erlebnis für sich, doch sagte sie zu ihm, als er erwachte: „Um Freunde zu finden, musst du dich noch gewaltig ändern...“
Oft glitt sie dicht über ihn hinweg, und er spürte den Luftzug ihrer Flügel. Sie rief ihm Grüße zu. Auf seinem Balkon hatte sie begonnen, ihr Nest zu bauen. Nach dem Mord an dem Grünfinken aber zog sie es vor, auf dem katzenlosen Balkon nebenan zu nisten. „Dein heißer Blick macht mich nervös“, sagte sie beim Auszug. Vor jedem Anflug auf ihr neues Zuhause aber flog sie einen Umweg über seine Blumenkästen. „Aus Gewohnheit an den früheren Weg“, erzählte sie dem Wellensittich aus der zehnten Etage. „Aus Sympathie für den jungen Kater“, schwatzte der Wellensittich in die Gegend. Doch wer blickt schon in das Herz einer Mehlschwalbe?
„Ich grüße dich von Sikesö“, zwitscherte sie schon von Weitem. Da zuckte der Graue Kater zusammen, und sein Räuberherz bebte vor Sehnsucht nach der Schönen Jahreszeit, nach Freunden, nach Klettern auf Bäumen und Dächern und nach Mäusejagden. „Ich grüße von Sikesö den großherzigen, edelmütigen Grauen Kater“, rief sie diesmal mit spöttischem Unterton. „Zwar erkenne ich nichts an dir, das dich sympathischer macht als jede gewöhnliche Stadtkatze, es sei denn, man nennt deinen Hängebauch nett. Dann allerdings gehörst du zu den edelmütigsten Katzen. Doch Sikesö besteht auf ihre Grüße an dich. Ich habe ihr von dir erzählt – und nichts verschwiegen. Doch ist sie so gutmütig, dich zu bewundern und – zu bedauern.“
Der Graue Kater schluckte ihre kleinen Bosheiten, denn sein Herz schlug rascher bei jedem Blick, den die Mehlschwalbe ihm zuwarf. Er wurde nicht müde zu hören, wie sie von Sikesö erzählte, schon der Klang dieses Namens ließ ihn von jemandem träumen, an den er sich schmiegen, mit dem er durch die Natur streifen konnte. Wüsste er nur...
Lange verbarg er seine Neugier. Eines Tages jedoch fragte er sie barsch: „Sag’, wer ist diese – Sch- Schikeschö, dass sie mir Grüße bestellt?“ Er sprach den Namen mit leichtem Sigmatismus, den er sich in seiner Kindheit durch häufiges Fauchen zugezogen hatte. Und die Mehlschwalbe lachte über seine verunglückten Zischlaute. Sie empfand ihr Lachen zwar als taktlos, da ihr aber dem Grauen Kater gegenüber außer treffenden Worten kaum eine andere Waffe blieb, quälten sie ihre Bedenken nicht lange.
„Du kennst Sikesö nicht?“ fragte sie. „Deine Bewunderin, deine wohl einzige Freundin“, dabei senkte sie lächelnd die Stimme, als der Graue Kater ihr enttäuscht in die Augen sah, „die kleine Schildkröte vom Nachbarbalkon?“
„Aha“, sagte der Graue Kater schnurrend, „Sch- Schikeschö, doch, ja, ja“, und er schloss die Augen, um seine Unwissenheit zu verbergen. Ihn ärgerte, dass diese kindische Mehlschwalbe so selbstverständlich mit Namen umging, die er nicht einmal kannte. Er hörte das kleine Mädchen von neben an, diesen Namen häufig rufen. Schildkröten aber hatte er noch nie gesehen. Einen Moment lang fühlte er sich an eine dünne rothaarige Katze aus dem Heuhaufen über dem Prignitzer Kaninchenstall erinnert, die stets aufdringlich und kratzbürstig mit ihm hatte raufen wollen. Herr Friedrich hatte ihn dort bei einem Besuch seines Bruders, Herrn Jörg, im Heu entdeckt und mit nach Berlin genommen.
Im Einklang mit der lieblichen Stimme der Mehlschwalbe, hielt der Graue Kater Sikesö ebenso für die Schöne Jahreszeit, wie die Sonne und den launischen Wind.
Sikesö hieß mit früherem Namen „Susi“. Das konnten Mehlschwalbe und Grauer Kater nicht wissen. Vor Jahren in ihrer Kleinkindsprache hatte das Mädchen Romina die Schildkröte Sikesö ausgesprochen, und ab sofort hieß Susi Sikesö. Romina wohnte in der Wohnung nebenan, und ihre Großeltern besaßen den Garten neben Frau Barbaras und Herrn Friedrichs Garten.
Der Graue Kater fand es in der Wohnung behaglich. Er liebte die weichen Ruheplätze auf Kissen und Couch. Zufrieden dachte er an den täglich einmal gefüllten Fressnapf und an eines seiner drei Lieblingsmöbel außer Kleiderschrank und Couch, den Kühlschrank, an dessen Kanten er sich gern schmiegte, war Frau Barbara in der Nähe. Doch seit die Mehlschwalbe ihn von Sikesö grüßte, schlich er ruhelos grübelnd durch die Wohnung. Er versuchte, dahinter zu kommen, w a s ihm fehlte. Brachte Frau Barbara Blumensträuße oder Herr Friedrich Zweige oder Wiesenkräuter für die Vase, begrüßte er sie schnuppernd, setzte sich davor und sog mit weiten Nasenflügeln ihren Duft ein. Mitunter, wenn die Nachbarin klingelte, stand die Wohnungstür für Augenblicke offen, und der Graue Kater schlich neugierig ins Treppenhaus, irrte in den elf Etagen umher wie in einem Labyrinth, bis er sich vor lauten Hunde- oder Menschenstimmen hinter den Türen ängstigte und erschöpft und verwirrt den heimatlichen Fußabtreter wiederfand.
An einem der ersten warmen sonnigen Nachmittage lugte er durch die wieder einmal offenstehende Wohnungstür ins Treppenhaus, setzte sich auf den Fußabtreter, lugte nach oben, zum siebenten, achten, neunten, nach unten, zum fünften, vierten, dritten Stockwerk. Wie viel er doch von der Welt nicht kannte. Sollte er sich ein wenig umsehen oder sich wie zu Silvester, wenn das große Katzenschießen begann, fürchten und rasch in den Kleiderschrank zwischen Herrn Friedrichs Unterwäsche fliehen, als plötzlich die Tür hinter ihm zukrachte. Wie gejagt huschte er die Treppen hoch bis dorthin, wo sie in blendender Helle endeten. Zusätzlich durch ein breites Dachfenster schien die Sonne auf den Fußboden, und inmitten dieses Sonnenplätzchens saß ein Mädchen. Vor ihm stand ein Näpfchen mit Salatblättern.
„Nun komm’ und friss ein wenig Salat, bevor er welkt!“ rief das Mädchen.
„Ich wandere lieber durch das warme Licht“, sagte ein ziemlich plattes Wesen, das sich auf kurzen Beinen schurrend, doch wie der Graue Kater fand, elegant das Linoleum entlang schob. Er schlich näher, um das unbekannte hübsche Wesen aus der Nähe zu betrachten.
„Sieh doch“, rief das Mädchen überrascht, „du erhältst Besuch. Eine Katze.“
„Kater“, berichtigte sie der Graue Kater, „von einem Kater. – Du wanderst?“ sprach er das platte Wesen an. „Kommst du auch voran? Ich wollte sagen, du bewegst dich recht gemächlich.“
„Nur nichts überstürzen, mein Graues Katerchen. Immerhin bin ich eine Schildkröte und habe eben siebzehn Minuten zurückgelegt.“
„Du kennst mich?“ fragte der Graue Kater verwundert. „Und wer bist du?“
„Ich kenne dich schon recht gut. – Ich heiße Sikesö.“
„Du...?“ Der Graue Kater setzte sich erstaunt. „Du – wohnst hier? Ich glaubte...“
„Ja, ich wohne neben dir. Auf dem Balkon. Meine frühere Heimat ist mit meiner jetzigen so gut wie verwandt“, sagte Sikesö. „Früher wohnte ich auf dem Balkan. Doch beengt mich das O im Namen meiner neuen Heimat sehr. Nun erwarte ich die warmen Tage im Garten am Wässerchen, von dem das Mädchen mir so oft erzählt. Ich laufe mir fast die Füße wund vor Ungeduld. Zuerst aber soll ich mit ans Meer. Dorthin, woher wir alle kommen. Vielleicht treffe ich dort meine Verwandten, die das Salzwasser mögen... – Die Mehlschwalbe erzählt mir von dir und – mitunter höre ich dich schnurren...“
„Danke für deine Grüße“, unterbrach sie der Graue Kater, „auch ich warte auf die Schöne Jahreszeit.“
„Wie poetisch du deine Worte wählst“, fuhr Sikesö fort, „ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, dich endlich persönlich kennenzulernen.“
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