Krähenzeit
Krähenzeit
Katrin Fölck
Copyright: © 2018 Katrin Fölck
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin
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Titelbild: © Wilqku/Adobe Stock
Zuvor
Ein lauter Knall durchbrach die Stille. Es hörte sich nach einem Schuss an. Der Widerhall vermischte sich mit dem aufgebrachten Geschrei von Krähen und dem Bellen eines Hundes.
Erschrocken hielt er inne. Noch während er versuchte, herauszubekommen, aus welcher Richtung der Lärm kam, fielen weitere Schüsse.
Ungefähr fünfzehn Meter vor ihm befand sich ein Felsplateau, von dem aus er hinunter ins Tal sehen konnte. Auf der Wiese konnte er einen Mann erkennen, der ein Gewehr in der Hand hielt. Es war kein Jäger, wie er zuerst annahm, sondern ein Bauer, dessen Feld an den Waldrand angrenzte. Er zielte auf die zahlreichen Krähen, die sich auf diesem niedergelassen hatten. Von den Schüssen aufgescheucht, stoben sie aufgebracht auseinander, bevor sie sich bereits kurze Zeit später wieder auf selbigem niederließen.
Ein Hund sprang Schwanz wedelnd hin und her und zeigte, was er von dieser Art Spiel seines Herrchens hielt. Wieder und wieder rannte er über den Acker und brachte neue Beute, wenn dieser eine der Krähen getroffen und damit zu Fall gebracht hatte.
Es beunruhigte ihn schon etwas, dass sich der Bauer gerade jetzt wieder für das Feld interessierte, nachdem es über Jahre brach lag. Er würde das im Auge behalten. Fürs Erste hatte er genug gesehen und trat, wie geplant, seinen Heimweg an.
1
Wieso ist es so kalt? dachte Sophie Bennet, während sie frierend nach ihrer Daunendecke tastete. Wahrscheinlich war diese wieder einmal auf dem Fußboden gelandet, nachdem sie sich im Schlaf unzählige Male unruhig hin- und hergedreht hatte. Doch, so sehr sie sich auch bemühte, sie bekam sie nicht zu fassen. Ihr Vorhaben, sich zuzudecken, umzudrehen und weiterzuschlafen, lief schief.
Sie blinzelte missmutig, nicht bereit, ihre Augen zu öffnen. Während sie das rechte zusammenkniff, lugte sie mit dem linken nach ihrer Decke. Es war stockdunkel. Sie konnte nichts erkennen. Gar nichts. Jetzt war sie gezwungen, Licht zu machen, um die Zudecke zurückzuholen.
Sie tastete nach der Lampe auf dem Nachttisch. Doch da, wo sie diesen wähnte, war nichts. Ihre Hand ging ins Leere. Verdutzt richtete sie sich auf. Wieso war es überhaupt so dunkel? Das ließ nur einen Schluss zu: Stanley musste das Rolle heruntergelassen haben…
Stanley… Sophie drehte sich leicht nach rechts, ihre Hand suchte nach dem Körper ihres Freundes, den sie, im Bett neben sich, ruhend unter seiner Bettdecke wähnte. Doch ihre Fingerspitzen berührten nichts Weiches, sondern harten, kalten Boden. Wie vom Blitz getroffen zog Sophie ihre Hand zurück.
Was war hier los? Wo war sie? Was hatte das alles zu bedeuten?
Die unvermittelte Erkenntnis, dass sie sich keineswegs in ihrem Bett befand, ließ sie erschaudern. Befremdlich fand sie neben der totalen Dunkelheit die gespenstische Stille, die um sie herum herrschte. Da war kein einziger Laut. Kein Geräusch oder Atemzug. Nicht das Geringste. Nur das Blut, das in ihren Ohren rauschte.
Ihre Zähne schlugen aufeinander. Die Kälte um sie herum hatte sie längst vollkommen eingenommen. Sie rieb ihre Arme. Das schenkte ihr für einen Augenblick etwas Wärme. Doch es war nicht nur die Kälte, die machte, dass sie zitterte. Angst machte sich in ihr breit und lähmte sie. Ihr Herz klopfte panisch, während ihr Atem schneller ging. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Richtig gelingen wollte ihr das nicht. Sie brauchte Antworten. Wo war sie? Wieso war sie hier? Wie war sie hierher gekommen? Was war passiert? Wenn es doch nur den kleinsten Anhaltspunkt darauf gäbe, wo sie sich befand. Irgendetwas, das ihr einen Hinweis auf ihre Lage geben könnte…
2
Ein stechender Schmerz durchfuhr sie, der vom Hinterkopf kam. Er hatte bereits die ganze Zeit dort gelauert und dumpf auf sich aufmerksam gemacht. Doch erst jetzt bemerkte sie ihn.
Hatte sie sich gestoßen? War sie gestürzt? Forschend tastete sie mit den Fingern die Stelle ab, von wo der Schmerz kam. Dort fand sie eine Beule. Darüber befand sich eine verkrustete Stelle.
War sie überfallen worden?
Langsam setzte ihre Erinnerung Fragmente frei, die zusammengesetzt ein Ganzes bildeten: Stanley und sie hatten sich mit einigen ihrer gemeinsamen Freunde zum Essen getroffen. Das war am Mittwochabend gewesen… Donnerstag hatte sich Stanley mit einem ehemaligen Studienfreund getroffen und sie war vorm Fernseher eingeschlafen. Freitagmorgen war sie laufen gegangen, bevor sie gegen Mittag im Büro sein wollte…
Plötzlich besann sie sich. „Nein, das kann nicht sein! Das darf nicht sein!“, brachte sie entsetzt heraus, als ihr wieder einfiel, dass am Waldrand ein Auto gestanden hatte…, daneben ein Mann, der sie um Hilfe bat, nach ihrem Handy fragte und eine Wagenpanne vorgab…
„Das ist nicht wahr.“, schüttelte sie ungläubig den Kopf. „Das ist nicht passiert.“, versuchte sie sich einzureden, sich der Wahrheit zu entziehen und ihre Situation langsam begreifend. „Oh Gott, nein… ich bin entführt worden.“, stellte sie sprachlos fest.
Die Erkenntnis überkam sie so schonungslos, dass sie mit dem Gefühl von blankem Entsetzen und absoluter Hilflosigkeit zusammenbrach. Von Weinkrämpfen geschüttelt, begann sie lauthals zu schluchzen, während ihr die Tränen nur so durchs Gesicht liefen.
Bald schon bekam sie keine Luft mehr. Der Tränenfluss hatte ihre Nase verstopft. Sie suchte in den Taschen ihrer Sportjacke nach einem Taschentuch und versuchte, ihre Nase wieder freizubekommen. In der Tasche fand sie jedoch noch etwas anderes: Etwas Rundes, Hartes. Sie erkannte, dass es eine Rolle Drops war. Sie drückte einen der Bonbons aus dem Papier heraus und steckte ihn in den Mund. Ein säuerlicher Geschmack von Zitronen breitete sich in ihrem Rachen aus. Sie musste an ihren Urlaub mit Stanley denken, den sie in Italien verbrachten.
Ein Ruck ging durch ihren Körper: Nein, das würde nicht ihr letzter gemeinsamer Urlaub sein! entschied sie entschlossen und gab, einer inneren Eingebung folgend, den angelutschten Drops zurück in das Papier. Vielleicht würde sie ihn noch brauchen…
Sie musste nachdenken. Auf keinen Fall durfte sie wieder die Nerven verlieren. Das wäre in ihrer Lage überhaupt nicht förderlich.
Zögernd begann sie zu analysieren. Was wusste sie? Ihr Entführer hatte sie an diesen Ort gebracht, jedoch nicht gefesselt… Warum nicht? War das gut oder eher schlecht? Sie konnte sich frei bewegen. Doch aus welchem Grund? Was bedeutete das? Hieß das, dass er sich ohnehin sicher war, dass sie diesen Platz niemals verlassen könne? Oder war dies eine Art Spiel, in dem er sehen wollte, ob und wann sie den Ausgang fand? Doch dafür musste er sie beobachten. Tat er dies etwa? Wusste ihr Entführer in jedem Moment, was sie tat? Auch, wenn sie in der Dunkelheit nichts sah, musste das ja nicht unbedingt heißen, dass der Kidnapper sie nicht belauerte und überwachte…, schließlich gab es Kameras und Nachtsichtgeräte. Bei diesem Gedanken erschauerte sie erneut. Wie krank musste jemand sein, so etwas zu tun?!
Sie begann, laut zu rufen. „Hallo?“, „Hören Sie mich?“, „Wo bin ich?“, „Warum haben Sie mich hierher gebracht?“, „Was wollen Sie?!“, „Wollen Sie Geld?“, „Warum reden Sie nicht mit mir?!“ Sie wartete auf eine Antwort. Als diese ausblieb, schlug ihre Stimme um, war nun etwas zwischen Brüllen und Kreischen. „Hallooooo, ich bin hiiiier! Hört mich jemand?! Hallo! Bitte, ich brauche Hilfe!“
Unvermittelt bahnte sich eine weitere Tränenflut an, während sie aus vollen Leibeskräften schrie. Immer wieder, bis schließlich nur noch ein heißeres Krächzen ihre Kehle verließ und ihr die Stimme versagte.
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