„Manchmal verklemmt sich etwas in der Transportkette“, bemerkte Kolbe, und sofort kniete sich die Vorarbeiterin nieder, um unter das Regal zu spähen.
„Da steckt ein Stift in einem der Kettenglieder, bewegen Sie das Regal mal um ein paar Zentimeter zurück“, sagte die Vorarbeiterin, „ja genau so, jetzt ist der Stift heraus gefallen und liegt flach auf dem Boden. Sie können das Regal nun weiter drehen.“
Als sich das Regal bewegte, kam der blutbeschmierte Gegenstand zum Vorschein und Kolbe traute seinen Augen nicht: es handelte sich eindeutig um einen USB-Stick der neuesten Generation.
„Zeigen Sie bitte mal her“, forderte Kolbe die Vorarbeiterin auf und sie ließ den Gegenstand in seine Hand gleiten, wobei Kolbe scharf auf die Reaktion in ihrem Gesicht achtete, doch da war kein Zeichen des Erkennens oder der Überraschung zu sehen.
„So eine verdammte Nachlässigkeit“, begann Kolbe zu schimpfen, „vor kurzem ist die Gleitre-galanlage repariert worden und ich habe die Monteure ermahnt, jeden alten Metallbolzen aufzusammeln, damit sie nicht in der Kette hängen bleiben. Und nun das! Das werde ich der Firma unter die Nase reiben!“
„Aber erst, nachdem ich den Bolzen gereinigt habe, ich lasse mir nicht nachsagen, dass ich nicht ordentlich gearbeitet habe!“, sagte die Vorarbeiterin erbost und wollte nach dem Stick in Kolbes Hand greifen, doch der ließ den Stick blitzschnell in seine Jackentasche gleiten.
„Schauen Sie mich an“, sagte Kolbe und setzte seinen Hundeblick auf, „sehe ich so aus, als würde ich Sie irgendwo anschwärzen wollen?“
„Nein, nein, Dr. Kolbe“, stotterte die Vorarbeiterin und die Röte schoss ihr ins Gesicht, „behalten Sie das Ding, so wie es ist. Und jetzt werden wir die Buchrücken vom Blut befreien. Sollte noch mal etwas Ungewöhnliches passieren, gebe ich Ihnen Bescheid.“
„Danke“, sagte Kolbe freundlich lächelnd und verließ erleichtert das Magazin.
Auf dem Gang zur Bibliothek meldete sich sein Institutshandy. Brettschneiders Sekretärin teilte ihm mit, daß der Chef ihn zu sprechen wünschte.
„Oh, das passt mir aber jetzt gar nicht“, gab Kolbe zurück, „ich wollte mich auf den Weg ins Krankenhaus zu Sophia Carrera machen.“
„Moment, ich verbinde mit Prof. Brettschneider“, erklärte die Sekretärin, es klickte kurz in der Leitung und Brettschneider meldete sich:
„Herr Kolbe, ich möchte Ihnen eine Woche bezahlten Sonderurlaub geben, damit Sie sich einerseits von den Aufregungen erholen können, aber andererseits mir zur Verfügung stehen, wenn ich zu Tanakas Tod weitere Informationen brauche.“
Kolbe staunte mehr über sich als über Brettschneiders Angebot, denn es überraschte ihn überhaupt nicht, es war so, als hätte er damit gerechnet.
„Vielen Dank, ich werde die Gelegenheit gleich nutzen und der traurigen Aufgabe nachkommen, Sophia Carrera über den Tod ihres Freundes zu informieren“, sagte Kolbe und Brettschneider beendete das Gespräch.
Kolbe schloss sich auf der Toilette ein und befreite den USB-Stick mit Toilettenpapier und Papierhandtüchern vom Blut, wobei er sich fragte, ob der Stick eigentlich noch funktionstüchtig war. Es juckte ihn mächtig in den Fingern, das sofort an seinem PC zu klären, aber er unterdrückte diesen Impuls, wusch sich sorgfältig die Hände und verstaute den USB-Stick sorgfältig in der Handy-Innentasche seines Jacketts.
Er entschloss sich, nach Hause zu fahren, um sich dort an seinem PC den Inhalt des USB-Sticks anzusehen. Paula, die eine eigene Wohnung besaß, war nicht da, er seufzte, weil er ihren Rat in dieser Angelegenheit dringend gebraucht hätte, weiß der Teufel, welche brisanten Dateien sich auf dem USB-Stick befanden.
Aber seine Neugier war so groß, daß er nicht länger warten konnte, er startete seinen PC und öffnete das Verzeichnis des Sticks. Nur eine Datei mit der Bezeichnung „Omics-Discussion.pdf“ war darauf vorhanden, es war die Diskussion von Tanakas Doktorarbeit, also der wichtigste Teil, der Tanakas Befähigung zur selbständigen wissenschaftlichen Arbeit begründete. Kolbe wurde klar, daß der USB-Stick aus Tanakas Trainingshose gefallen sein musste, als dieser seinem Leben ein Ende setzte. Aber weshalb hatte er nur diese eine Datei bei sich und nicht die gesamte Doktorarbeit? Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu und Kolbe wusste, dass er in seiner Wohnung nach einem idealen Versteck für den Stick suchen musste.Er dachte an Paula und wusste sofort, wo er den USB-Stick aufbewahren würde, nämlich in einem blaugrau salzglasierten Kännchen aus Steinzeug, das seine Freundin ihm geschenkt hatte, und das als Dekoration auf dem Küchenschrank stand.
Schnell fuhr er nach Hause, eilte in die Küche, ließ den Stick in das Kännchen gleiten und stellte es auf den Schrank zurück. Er schaute noch nach Post, dann verließ er seine Behausung und fuhr zum Krankenhaus, wobei er nach den richtigen Worten suchte, um Sophia so schonend wie möglich die schreckliche Wahrheit sagen zu können.
Björn Mager hatte ganze Arbeit geleistet: er war bei Sophia im Rettungswagen mitgefahren, erledigte im Krankenhaus die Formalitäten bei der Aufnahme, erkundigte sich, auf welcher Station Sophia nach der OP liegen würde und teilte der Stationsleitung mit, daß Sophia im Laufe des Tages von einem Dr. Kolbe Besuch bekommen würde. Deshalb war die diensthabende Schwester nicht überrascht, als Kolbe sich bei ihr meldete und die Ärztin, die Sophia behandelte, zu sprechen wünschte.
"Ich weiß, daß ich kein Verwandter von Frau Carrera bin", teilte er dieser mit, "und Sie mir im Grunde keine Angaben über ihren Gesundheitszustand machen müssten, aber ich habe Frau Carrera etwas sehr Trauriges mitzuteilen und wüsste natürlich gern, ob Frau Carreras Zustand so stabil ist, daß ich ihr das zumuten kann."
"Herr Kolbe, es ehrt sie, daß sie danach fragen und nicht einfach in das Krankenzimmer stolziert sind, um Frau Carrera diese Mitteilung zu machen", freute sich die Ärztin über Kolbes Mitgefühl, "aber um die Wirkung dieser Nachricht auf Frau Carrera beurteilen zu können, müsste ich schon wissen, um was es sich handelt."
Kolbe räusperte sich und sagte trocken: "Ich möchte ihr mitteilen, daß sich ihr Freund gestern umgebracht hat."
"Dann wird es wohl vernünftig sein", sagte die Ärztin alarmiert, "dass ich dabei bin, wenn sie ihr dies mitteilen. Frau Carrera hat die OP sehr gut überstanden, die Nase wird komplett verheilen und die Gehirnerschütterung ist ohne Folgen geblieben, soweit wir das jetzt sagen können. Also, kommen Sie, bringen Sie es hinter sich, ich sehe schon, dass nicht nur Frau Carrera erschüttert sein wird, Sie selbst sind es ja auch immer noch!“
Als die Ärztin und Kolbe Sophias Krankenzimmer betraten, richtete sich Sophia in ihrem Bett auf.
„Oh, Herr Kolbe, wie schön, daß Sie mich besuchen, aber ich hatte eigentlich mit Kotaros Besuch gerechnet“, lächelte sie ihm entgegen.
Kolbe schwieg, setzte sich auf einen Stuhl an ihrem Bett und schaute Sophia in die Augen. In seinem Gesicht mussten sich wohl Qual und Trauer widerspiegeln, denn Sophia sagte hastig: „Meine Güte, Herr Kolbe, wie sehen Sie denn aus? Was ist passiert?“
Kolbe schwieg immer noch, ergriff aber nun ihre linke Hand und schaute sie weiter unverwandt an. Doch dann nahm er seinen Mut zusammen und antwortete:
„Ja, es ist etwas passiert, und das ist das Wichtige, was ich Ihnen bereits in ihrer Wohnung zu sagen hatte.“ Er musste sich räuspern und dachte, warum kann ich diese Nachricht nicht durch Gedankenübertragung an Sophia weitergeben?
Sophia legte ihre Stirn in Falten und richtete sich vollständig auf: „Es betrifft Kotaro, stimmt's?“
Kolbe nickte stumm.
„Er kommt nicht, weil ihm etwas zugestoßen ist, richtig?“
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