Dann passierte es, dass ich eines Tages vor unserer Wohnungstür stand, die man versiegelt hatte. Schlüssel musste ich bei der Polizei abholen. Mutter hatte in ihrem schweren Gemütszustand Hitler und Genossen aus dem Fenster rufend beleidigt. Daraufhin wurde sie von einem Nazi angezeigt und abgeholt. Mir wurde gesagt, sie sei in der Anstalt Friedrichsberg. Später kam sie nach Langenhorn und dann nach Pinneberg, immer unter Aufsicht. Sie wurde mit Medikamenten vollgepumpt, um diese Gemütsanfälle zum Stillstand zu bringen, was aber nicht gelang.
Zwischendurch traf Helmut Wittmack, einer unserer neuen Concorden, im Rauhen Haus ein. Mit meinem Mädchen trafen wir uns oft, wenn wir Freizeit hatten. Es wurden Wanderungen an der Elbe entlang gemacht oder in die Heide. Manchmal waren wir auch im Garten, Horner Landstraße 439, wo Lisas Vater Mitbesitzer eines Hauses war. Es waren schöne Sommerabende in der Laube. Vom Schwarzen Weg hinter dem Grundstück konnte man durch eine Pforte in den Garten gelangen. Natürlich waren die Eltern gespannt, was wohl ihre Tochter da herangeschleppt hatte. Aber noch blieb ich für die Eltern im Dunkeln.
Es gab allerlei Ereignisse in unserem Leben. Abends spät in der Anstalt schrieb ich Nachrichten der Bekennenden Kirche, besuchte auch Versammlungen bei Pastor Remé in der St. Gertrud-Gemeinde. Zu Ostern erfüllte sich mein Wunsch, ins Seminar DW II - Diakonsklasse zu kommen. Am ersten Schultag hatte ich gleich eine Auseinandersetzung mit zwei Dozenten: Sie fragten, warum ich kein Abzeichen der Partei trüge. Zwei Stunden lang versuchte man, uns vom Nationalsozialismus zu überzeugen. Unsere Antwort vor ca. 12 Schülern: "Wir sind in der bekennenden Kirche." Dies schlug natürlich wie eine Bombe ein. Eine Dozentin wollte uns klarmachen, dass es ums Rauhe Haus gehe. Wir säßen alle in einem Boot! Wir aber nicht! Daraus ergab sich eine Unstimmigkeit unter den Schüler-Brüdern. Ältere wollten austreten. Wir verabredeten am Nachmittag im Blohmspark ein geheimes Treffen, denn im Rauhen Haus waren wir uns nicht sicher genug. Viele der älteren Brüder gehörten ja verschiedenen Parteiorganisationen an. Im Park kam dann eine Aussprache zustande. Manche wollten austreten und nach Moritzburg gehen, was dann auch geschah. Mein Entschluss galt für alle anderen: Durch Weggehen ändern wir nichts. Aushalten, auch unter schwierigen Bedingungen. Es wird die Stunde kommen, wo es wieder anders werden wird.
In der nächsten Zeit wurden wir schulwissenschaftlich auf Vordermann gebracht. Hier nahm sich Bruder Germer viel Zeit. Wir profitierten von dem, was er uns mitgab, doch eine ganze Menge. Von der Wichernschule tauchte auch ein Lehrer auf, der für Biologie zuständig war, auch ein SS-Mann. Er versuchte, uns zusammen mit seiner Kollegin zu beeinflussen und erreichte das Gegenteil. Bei den Auseinandersetzungen ging es hart her, und in der I. Etage lagen Füßinger und Jahnke aus dem Fenster und hörten mit. Man wagte aber nicht, uns zur Rede zu stellen, sondern suchte wohl einen Ausweg. Habe mit den verantwortlichen Leuten verhandelt, um 14 Tage Urlaub zu bekommen, um nach Borkum ins Bibellager zu fahren. Dies wurde von der RH-Leitung genehmigt. Nun sollte auch Lisa mit. Das Hindernis waren die Eltern. Flugs kaufte ich einen Blumenstrauß und besuchte Lisas Eltern. Stellte mich als Diakonsschüler des Rauhen Hauses vor und betörte die Mutter mit meinem nicht vorhandenen Charme. Immerhin, nach langem „Wenn und Aber“, bekamen wir die Genehmigung gemeinsam zu reisen. Hoffentlich bekämen sie ihre Tochter heil wieder. Wir sind vom Hauptbahnhof Richtung Bremen mit dem Zug gefahren. Unsere Fahrräder hatten wir aufgegeben. Ab Bremen ging es per Pedes nach Apen ins Pfarrhaus. Pastor Stöver und Frau nahmen uns herzlich auf. Es sollte der letzte Besuch sein. Später hörten wir, das Pfarrhaus sei von einer Bombe vernichtet worden. Eigentlich lag es ganz abseits von Emden. Des Pfarrers Auslegung des Alten Testaments war immer auf die bedrohte Zeit durch Hitler ausgelegt. Von Emden fuhren wir mit der Fähre nach Borkum. Das Heim des Jungmänner-Verbandes Deutschland hieß Waterdelle. Wir verlebten schöne Tage der Gemeinsamkeit mit den jungen Leuten, die aus ganz Deutschland gekommen waren. Paul le Seur hielt uns in den Dünen die Bibelarbeit, die immer sehr ergiebig war. Unser Glaube bekam sehr viel Stärkung. Bei einer Stunde klang so etwas von einem Ahnen durch, dass die kommende Zeit schwierig werden könnte. Wir erlebten unsere Ferienfreuden: Viel Baden, Bootsausfahrten, Besichtigung von Borkum, suchten die Häuser der ehemaligen Walfänger, deren Gartenzäune mit Walknochen bespickt waren. Die Freizeit ging zu Ende, und wir fuhren mit dem Rad zurück durch Friesland, übernachteten auf einem Bauernhof. Von dort ging es am anderen Morgen nach Bremerhaven zu der Familie von Großmutter Hinzes Stiefschwester. Am nächsten Tag besuchten wir den Sohn des Pfarrers v. Busch. Es war ein herrlicher Tag. Keiner ahnte, dass wir mit den Senioren des Rauhen Hauses ca. 40 Jahre später Ringstedt nochmals aufsuchen würden. Der Pastor dort hielt uns in der Dorfkirche die Abendandacht. Vorher hatten wir den alten Busch gefunden und besucht. Er erinnerte sich an die Gabriels. Von Ringstedt ging es, mit großer Mühe für Lisa, mit dem Rad weiter nach Moisburg. Wir schliefen sehr primitiv in Pastor Schwiegers Jugendheim. Von dort fuhren wir dann nach Hamburg. Lisa ging zu ihren Eltern und ich ins Rauhe Haus.
Ich wurde jetzt mal in jeder RH-Familie eingesetzt, im Haus Eiche bei Bruder Fahrni, dann im Köcher bei den Lehrlingen. Morgens hieß es früh aufstehen. Auf Widerruf war ich bei Bruder Noack im Bienenkorb. Im Rauhen Haus war der Kampf der Diakone entbrannt. Ackermann aus der Wichernschule war strammer Parteigenosse der Nazis im Bund mit der NSDAP-Kreisleitung aus Blohmspark. Wegeleben war kurz vor dem Weggang.
Lisa und ich wollten uns bald verloben. Wir wurden gebeten, im Rauhen Haus die Ringe nicht öffentlich zu tragen, ältere Brüder könnten Anstoß daran nehmen. Blöd, aber so war es im Rauhen Haus: Keine Bräute während der Ausbildung. Pastor Wegeleben hatte man hinausgegrault, und ein neuer Direktor kam: Pastor Donndorf, der nun den Kampf mit Ackermann aufnehmen musste.
v. l. n. r: Pastor Donndorf, August Füßinger, Bischof Lilje (Foto aus den 1950er Jahren)
Eines Tages war es dann soweit, alle Familienleiter und Gehilfen mussten zu einer Versammlung, wo hohe Tiere der Partei dabei waren. Man musste sich entscheiden: Das alte Rauhe Haus mit seiner Erziehungsmethode fliegt auf, oder es wird eine SS-Heimschule. Das Personal wollte man mit übernehmen. Ich hatte zu der Zeit Dienst in der Zentrale und wartete auf eine richtige Entscheidung. Erziehungsarbeit im Rauhen Haus aufgeben, war meine Parole. Bruder Helmut Wittmack kam zu mir in die Zentrale und berichtete. Unter dem Druck von Ackermann und dem Kreisleiter hatte man sich für die SS-Heimschule entschieden. Helmut berichtete: Ackermann hätte gesagt, Christen und Nationalisten seien ja dasselbe. Darauf Helmut Wittmack: „Die sind wie Feuer und Wasser.“ Darauf Ackermann, er wolle es nicht gehört haben, nächstes Mal werde er ihn anzeigen. Wir aber waren von der Entscheidung bedient. Die Führung des Rauhen Hauses hatte kein Rückgrat gezeigt. Aber was für ein Wunder: Der Direktor Engelke war ja bei Reichsbischof Müller Reichsvikar geworden. Zwischendurch hatten wir in der Stadthalle in Harburg den Reichsbischof erlebt. Armer Mann, schweißwischend stand er am Rednerpult, seine Leibwache der SA als Saalschutz. Er, der Bischof, legte das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus und zeigte auf Gott, holte auch den verlorenen Sohn heim, den Christus. Hier aber irrte dieser Reibi, wie wir ihn nannten, denn die ausgebreiteten Arme des Vaters sind ja Jesu Arme, denn nur durch ihn geht der Weg zum Vater. „Ich“, spricht Jesus, „bin der Weg und die Wahrheit. Niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ Weil die Nazis Jesus als Juden ablehnten, musste man solche Auslegung bei den Deutschen Christen konstruieren.
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