Sophie runzelte die Stirn. Kein gefühlsduseliger Firlefanz? Von Berufs wegen? Als würde ein Eimer eiskaltes Wasser über ihr ausgeschüttet, so trafen sie diese Worte. Aber es waren die Worte des Onkels. Es waren nicht die Worte von Doktor Schneider. Ihr gegenüber hatte Doktor Schneider nicht von Geld und Geschäften geredet, er hatte von Liebe geredet. Und den Blick, mit dem er sie angesehen hatte, so voller Wärme und Bewunderung, den hatte sie sich auch nicht nur eingebildet, der war wahr. Seine Frau zu sein! Verheiratet!
Sie erschauerte. Fremd war das, verwirrend. Anziehend und erschreckend in einem. Was sollte sie nur dazu sagen, was sollte sie tun, so plötzlich, sie konnte doch nicht, wusste doch nicht —
Sie spürte Tränen aufsteigen, war es Glück, war es Schreck? Vielleicht würde es gleich an der Tür klopfen, und er würde draußen stehen mit einem Strauß roter Rosen und würde sie bitten, seine Frau zu werden, da musste sie doch wissen, was sie antworten sollte! Ich fühle mich sehr geehrt! — das reichte ja wohl nicht, ein Ja würde er hören wollen oder ein Nein, und eines erschien ihr plötzlich so unmöglich wie das andere. Die Antwort eines Augenblickes würde über ihr ganzes Leben entscheiden. O Gott, was sollte sie tun?
Da hörte sie wieder den Onkel: „Nein, sag' ich doch, Agathe! Es war kein Antrag, wohlgemerkt. Das Mädchen muss nichts davon erfahren!“
Kein Antrag? Ihr Herz raste. Was dann? Was sollte diese ganze Unterhaltung, wenn Doktor Schneider überhaupt nicht um ihre Hand angehalten hatte?
Sie brach in Tränen aus. Und erst im Weinen begriff sie die Enttäuschung und aus der Enttäuschung die Liebe. Ja, sie liebte ihn, aber er liebte sie nicht, er hatte nicht um ihre Hand angehalten. Sie hatte alles falsch verstanden, ganz und gar falsch.
„Er ist bei mir vorstellig geworden, um abzuklären, ob seine Werbung von deiner und meiner Seite aus prinzipiell genehm wäre, trotz des Standes- und des Altersunterschiedes, wie er frank und frei ansprach. Er wolle Sophie nicht unnötig in Verwirrung stürzen, wenn eine mögliche Heirat von vornherein abgelehnt würde, hat er erklärt. Finde ich eine noble Haltung. Nichts dagegen einzuwenden. Und was den Altersunterschied betrifft, so ist er immerhin vertretbar, früher gab es solche Ehen wie Sand am Meer. Und es hat auch sein Gutes — dann hat er sich wenigstens die Hörner schon abgestoßen, du weißt, was ich meine. Also: Meinen Segen hat er, und ich rate dir gut, Agathe, schlag dir einen Baron oder gar Grafen aus dem Sinn, vergiss deinen Stolz und gib deinem Herzen einen Stoß.“
„Du meinst also, meine Tochter soll den Spatzen in der Hand nehmen“, hörte Sophie schrill und spitz die Stimme ihrer Mutter.
„Der Spatz in der Hand ist allemal besser als die Taube auf dem Dach — wenn das Dach so hoch liegt wie in diesem Fall“, erwiderte der Onkel. „Strategisch muss man denken, das sollte doch dir als Offizierstochter klar sein. Etwas Besseres als dieser Doktor Schneider kommt nun mal aller Voraussicht nach nicht hinterher. Also gilt es, die Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen. Soll er in Ruhe dem Mädchen den Hof machen und soll Sophie dann selber entscheiden, das ist das, was ich dazu zu sagen habe. Ordentlich versorgt wäre sie durch ihn jedenfalls. Und wer weiß, vielleicht wird sie glücklicher mit ihm als mit einem jungen Gardeoffizier von altem Adel, denn wohin so einer seine Frau bringen kann, das sehen wir ja an dir, Agathe!“
Ein glückliches Schluchzen brach aus Sophies Brust, schnell schlug sie die Hand vor den Mund, wandte sich ab, verließ ihren Horchposten und sank in den Lehnstuhl am Fenster. Sie hatte es gewusst. Sie hatte es gewusst. Er war gut. Er war einer, dem man vertrauen konnte. Er ließ ihr Zeit und achtete sogar darauf, sie nicht zu verwirren. Bei ihm war alles aufgehoben, auch ihre Zweifel. Aber die waren sowieso schon vorbei. Jetzt wusste sie wirklich, dass sie ihn liebte.
Endlich dieses düstere Hinterzimmer verlassen können, einen eigenen Hausstand haben, der Aufsicht und Gängelei der Mutter entrinnen!
Sich nicht fühlen müssen wie ein Pferd, das zum Kauf angeboten wird, das vorgeführt wird und dem ins Maul geschaut wird, ob es auch nicht zu alt ist oder krank.
Endlich einen Platz haben. Wissen, wo man hingehört und wo man geschätzt wird. Und sein Alter? Nein, das schreckte sie nicht. Es war eher umgekehrt. Es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Ihm konnte sie vertrauen. Die Vorstellung, sich an seine Schulter zu lehnen ...
Sie würde sich nichts anmerken lassen. Wenn die Mutter und der Onkel ihr nichts davon sagten, würde sie tun, als wisse sie von nichts.
Sie lachte leise in sich hinein und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sollte er ihr ruhig den Hof machen und glauben, sie wäre ganz ahnungslos. Sollte er ruhig!
Und was das Thema Landpartie anging, wusste sie nun, wer mit von der Partie sein würde. Auch wenn es der Mutter nicht gefiel, weil die Mutter für sie höher hinauswollte. Aber der Onkel war der Bruder ihres Vaters, er stand an seiner statt, und auch wenn er sich bisher ihr ganzes Leben nicht um sie geschert hatte, jetzt hatte sein Wort Gewicht. Mit dem Onkel auf ihrer Seite würde sie auch die Einwilligung der Mutter erhalten.
Frau Doktor Friedrich Schneider ...
Wie fremd das klang. So schmucklos, geradezu bloß. Gewöhnlich. Mehr als nur ein Name — die Zugehörigkeit zu einem Stand, der unter ihrem eigenen war. Eine Bürgerliche zu sein, das war ein Abstieg, der nicht zu leugnen war, mochte man es drehen und wenden, wie man wollte. Manche Tür würde ihr mit diesem Namen verschlossen bleiben, die ihr jetzt offen stand.
Aber sie stand ihr ja nicht wirklich offen! Von wegen Hofgesellschaft — sie war niemals als Debütantin eingeführt worden, und niemals würde sie auf einem Hofball tanzen, weder als Frau Doktor Friedrich Schneider noch als Baronesse Sophie von Zietowitz. Oder doch, eines Tages, als Baronin oder gar Gräfin? Von allen bewundert, von allen beneidet ...
Ach, das waren Illusionen. Der Onkel hatte recht.
Doktor Friedrich Schneider. Ein ehrlicher Name. Einer, der nicht erst mit Blut reingewaschen werden musste. Einer, an dem nichts klebte, keine Erinnerung an ein dunkles Verbrechen, das ein junges Mädchen in den Tod getrieben hatte.
Sein Name. Ihr Name.
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