Die Tasse scheppert ein wenig als Helena sie auf dem Untersatz abstellt. Sie muss es jetzt wissen. Was wird hier gespielt?
„Wo ist der Eduard denn also?“
„Eduard? Ist er nicht in seinem Zimmer?“
Die Kubanerin eilt in den Korridor. Erst ist er nicht zu Hause, jetzt vielleicht doch in seinem Zimmer, denkt sie. Die alte Dame will einen also für dumm verkaufen.
Eben diese alte Dame, die so senil ist, wie sie eigentlich auch aussieht, ruft noch ganz verdattert hinterher mit ihrer zittrigen Stimme.
„Weißt du denn wo es ist, Kind?! Das erste Zimmer rechts!“
Helena eilt mit Tunnelblick auf dieses Zimmer zu, sieht im Flur gerade noch eine Bildergalerie an der bunten Tapete. Der dicke Bruder Benny, der Eduard so gar nicht ähnlich sieht, ist dort verewigt, die Eltern, mit bauschigen Frisuren, in kunterbunter Kleidung, zufrieden lächelnd. Ein unheimliches Lächeln in Anbetracht der Tatsache, dass sie tot sind, befindet Helena noch in ihrer Rage. Auch Eduard glaubt sie auf einem feschen Portrait gesehen zu haben. Aber dafür bleibt jetzt keine Zeit. Schon hat sie die Klinke ergriffen und schiebt die Tür auf.
In ein dunkles Zimmer.
Jetzt ist alles egal, nur noch das Licht anknipsen, geklopft hatte sie eh nicht in ihrem Wahn.
Nichts. Ein leeres Zimmer mit gelben Tapeten und einem flauschigen Teppich. Ein Bett, das wie frisch gemacht aussieht, völlig unbenutzt. So ein unscheinbares Zimmer. Hier soll der Eduard wohnen? Sie wagt sich einen Schritt hinein. Dann noch einen. Irgendetwas muss doch auf diesen fantastischen Jungen hindeuten.
Da. Am Schrank hängt ein Hemd auf einem Bügel. Ein ganz tolles, ausgefallenes Hemd. Es glitzert regelrecht im Schein der Deckenlampe. Helena ist beruhigt. Denn nur Eduard würde ein solches Hemd tragen. Langsam füllt sich der Raum mit Leben. Da sind noch die Pinnwand über dem Schreibtisch und ein peppiger Schuhkarton unter dem Bett. Und auch ein paar kleine Gewichte zum Trainieren. Ganz beklemmt vor Begeisterung schreitet die junge Kubanerin zuerst auf die Pinnwand zu. Sofort springt ihr ein Bild ins Auge. Eine Schwarzweißfotografie von einem hübschen Mädchen. Mit stark angemalten Augen und wilden Haarsträhnen im Gesicht. Nein. Kein Mädchen. Es ist Eduard. Helena ist erschrocken und fasziniert zugleich. Denn obwohl wie ein Mädchen, sieht er immer noch wie der selbstbewusste, kesse Eduard aus. Sie geht noch näher an das Bild heran, als eine Stimme hinter ihr sie erschrecken lässt.
„Und?“
Die Oma steht im Türrahmen. Ganz apathisch. Oder nein, eher ganz traurig, denkt Helena und schüttelt zaghaft den Kopf.
„Nein, Frau Brink. Hier niemand ist weiter.“
„Er ist eigentlich nie da. Ich bin hier fast immer ganz allein. Manchmal bringt er den Einkauf und dann sehe ich ihn erst am nächsten Tag wieder. Nur der Benny kümmert sich ein bisschen um mich. Manchmal sehen wir zusammen fern. Wenn er keine Nachtschicht hat. Benny ist bei der Polizei. ...Bei der Volkspolizei.“, sagt die Oma und nickt überzeugt.
Die junge Kubanerin sieht die greise Dame eine Weile fragend an mit ihren großen Augen.
„Aber wo ist Eduard?“
„Er ist nicht da.“
Die Antwort kam prompt und klang verzweifelt, fast protestierend, sie klang ehrlich und echt,
und Helena glaubt nun nicht mehr, dass die Oma falsches Spiel spielt.
Ein paar Schuheschreiten am Fenster im Souterrain vorbei. Helena ist mit ihnen praktisch auf Augenhöhe. Sie kann Winterstiefel erkennen und auch Bommeln daran, die durch die Schrittfolge wild hin und her tanzen. Als der Bildausschnitt vor ihren Augen wieder zu einer bloßen Kulisse erstarrt, fällt das schummerig gelbe Licht der Straßenlaternen stur auf ihr Gesicht. Einer dieser aus Beton gegossenen Lichtmasten steht schräg vor ihrem Fenster, streckt sich aus ihrer Perspektive gewaltig in die Höhe.
Durch die beschlagende Scheibe blickt die junge Kubanerin gedankenversunken auf die mausgraue Hauswand eines Nachkriegsbaus auf der gegenüberliegenden Seite. Ein Bürogebäude, das zu einem so genannten Volkseigenen Betrieb gehört, zur Tageszeit erfüllt ist mit Licht und Leben hinter dicht gewebten Gardinen, jetzt mit toten Fenstern der Nacht überlassen.
Autos, mit Namen wie Trabant, Lada oder Wartburg, reihen sich dort drüben aneinander, Farbflecken, wässerig und fad.
Helena hat sich an den für ihre neue Heimat so repräsentativen Ausblick längst gewöhnt.
Hat ihn sogar mögen gelernt und interpretiert stets eine verklärte Romantik in ihn hinein.
Auch jetzt erkennt sie trotz ihrer Müdigkeit, dass der Schnee nicht nur die Wege und die Straße bedeckt. Er liegt wie Zuckerwatte auch auf den Fensterbrettern, Autodächern und den schwarzen Ästen der Bäume. Draußen scheint der Herzmuskel des Lebens knirschend im Eis stehen geblieben, doch verstecken sich irgendwo Vögel zusammengekuschelt in ihren Nestern, freut sich ein Arbeiter nach einer langen Schicht auf die geheizte Wohnstube, auf die Familie, auf Tee und Kekse.
Ein quietschender Wisch über die Scheibe. Doch diese hat von außen bereits eine dünne Eisschicht angesetzt. Etliche Minuten und genau drei Paar Schuhe später wird Helena durch sanfte karibische Töne aus ihrer Lethargie geholt. Es sind die typischen Salsa Klänge ihrer Heimat, die da von nebenan aus dem Wohnzimmer dringen.
Eine klare Vorstellung zeichnet sich vor Helenas regem Geiste ab: Martin, der Lehrer, mit einer Zigarette im Mund, gerade eine Weinflasche öffnend, ihre Mutter, ihn dabei fröhlich beobachtend, ebenfalls rauchend, in ihrem Hemd, das aussieht wie Wildleder, lässig im Schneidersitz an den Ofen gelehnt.
Die beiden wären ihr sicherlich nicht böse, würde sie sich jetzt noch ein wenig zu ihnen gesellen. Aber sie möchte sie lieber allein lassen.
So geht sie ins Badezimmer und widmet sich einer Zeremonie, die sie ganz allein für sich entdeckt hat, mit der sie sich so manchen Abend schon für ihre unermüdliche Aufgeschlossenheit ihrem neuen Leben gegenüber belohnt hat. Sie öffnet den Hahn der Badewanne, das Wasser poltert los, im Boiler flammt es mit einem dumpfen Fauchen auf, und schon bald duftet es nach Schaum. Helena taucht sobald ein, ins heiße, wohlwollende Nass, ist von riesigen Schaumhügeln umgeben.
Minuten später poltert das Wasser noch immer lautstark in den Korpus der Wanne, da sind Helenas Lider schon sehr schwer. Eine große Uhr hängt an der Wand mit alten Kacheln, von denen sich die eine oder andere schon gelöst hat. Das Gehäuse beschlägt. Der große Zeiger dahinter macht einen weiteren Satz in Richtung Nacht.
Draußen diese klirrende Kälte, das heiße Bad hier unten, im goldenen Schein.
Helena ist noch einmal ganz selig und dankbar bevor sie einschläft. Den Geschmack des neuen Lebens auf der Zunge, die Heimat im Herzen, so angenehm und spannend hatte sie sich das neue Leben vor wenigen Monaten nicht vorstellen können.
Der Boiler flammt noch mal auf, der große schwarze Boiler, wie ein guter Geist wacht er über das schlafende Mädchen im Korpus der Wanne. Das Wasser läuft in den Überlauf, fließt durch das kleine Gitter in die verborgene Welt dahinter. Es rauscht die Rohre hinab, schräg nach unten, fließt dann wieder fast eben durch ein Rohr, welches in den Speicher unterhalb des Kartoffellladens führt und dort entlang der Decke verläuft.
Der Junge Eduard schaut in diesem Moment kurz zu dem Plätschern hinauf. Dann widmet er sich wieder voll und ganz seiner Lektüre. Ein Plattenspieler dudelt dort, wo der Junge Eduard gerade ist, leise vor sich hin. Kerzen flackern. Eine Stehlampe, ein kleiner Gasheizer. Ausgemustertes Mobiliar erweckt den Anschein einer wohnlichen Einrichtung. Bücher und lose Schriften sind überall in diesem seltsamen unterirdischen Ort verteilt. Technische Zeichnungen hängen an der Wand, Lagepläne, Fotos vom Grenzstreifen. Eine antike Truhe steht am Ende des Raumes, fast im Dunkeln verborgen. Der alte Speicher unter dem Kartoffelladen gleicht einer mysteriösen Kommandozentrale. Zumindest aber wurde er zu einem geheimen Rückzugspunkt umfunktioniert.
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