Doch dann stand er bereits vor ihnen. Alex war aufgesprungen, um ihm um den Hals zu fallen und ihn auf den Mund zu küssen. Marisa fasste kaum, was sie sah. Er ließ sich tatsächlich von ihr auf den Mund küssen. Wäre sie nicht absolut unfähig gewesen, irgendeine Gefühlsregung zu zeigen, sie hätte angefangen zu lachen. Das war doch alles eher ein Witz.
„Darf ich dir meinen neuen Freund vorstellen“, sagte Alex und Marisa glaubte, sich verhört zu haben.
Unmöglich konnte er ihr Freund sein.
„Nicht nötig“, brachte Marisa unter Schmerzen heraus.
Jeder einzelne Buchstabe durchbohrte ihr Herz. Ihr Vertrauen war zerstört. Niemals mehr wieder würde sie einem Mann glauben, was er sagte. Niemals, unter keinen Umständen. Das schwor sie sich in diesem Moment und sagte es sich in ihrem Inneren immer wieder vor, wie ein Mantra, das sie davor schützen sollte, weinend zusammenzubrechen.
„Das ja voll lustig“, sagte Benny, „wusste gar nich’ … echt ein Zufall, was? Unglaublich, wie klein die Welt is’.“
„Ihr kennt euch?“, fragte Alex.
„Als ob du das nicht wüsstest‘, dachte Marisa und wäre ihr am liebsten an die Gurgel gegangen.
Sie wusste, wozu Alex fähig war und dass sie, ohne mit der Wimper zu zucken, Marisa jeden Mann wegnahm, nur allein aus dem Grund, weil sie es konnte. Es machte ihr Spaß. Wahrscheinlich dachte sie sich nichts dabei. Alex war in der Vergangenheit so unglaublich zuckersüß dabei gewesen und hatte Marisa am Ende sogar getröstet, wenn sie weinend und vor Liebeskummer und Enttäuschung auf ihrem Bett lag. Alex hatte ihr dann immer versichert, sie hätte bei den Kerlen nichts verpasst. Was wollte sie denn auch schon von einem, der sie so schnell für eine andere fallen lassen würde? Alex hätte ihr doch im Prinzip nur einen Gefallen getan, das müsse sie ihr glauben. Nichts anderes habe Alex im Sinn dabei gehabt.
Marisa sah Alex durchdringend an und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, ob sie wirklich die Unschuldige war, die sie vorgab. Alex hatte wieder Platz genommen und nahm einen Schluck Wein, als wäre nichts dabei. Tatsächlich lag in ihrem Ausdruck ein großes Fragezeichen. Entweder hatte Alex ihre schauspielerischen Fähigkeiten verbessert, oder aber sie hatte tatsächlich keine Ahnung.
Dann war das alles Bennys Schuld. Wieso traf er sich mit einer anderen Frau, wenn er doch mit ihr verabredet gewesen war? Er hatte sie angelogen. Und das nicht nur am heutigen Abend.
„Ja“, sagte Marisa, „wir kennen uns. Willst du Alex nicht erzählen, wie wir uns kennengelernt haben?“
„Das is’ echt ‘ne verrückte Geschichte“, lachte Benny und setzte sich wie selbstverständlich zu ihnen an den Tisch und bestellte sich etwas zu trinken.
„Da bin ich jetzt aber gespannt“, sagte Marisa und Alex nickte.
Zum ersten Mal hatte Marisa den Eindruck, dass auch Alex auf einen Mann hereingefallen war. In dieser Reihenfolge war das bisher noch nie vorgekommen.
„Marisa“, sagte Benny, „erzähl du mal, schließlich hat dir dieser komische Kerl ein eindeutiges Angebot gemacht.“
Wieder lachte Benny und sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze. Sein gesamter Charme war ihm abhanden gekommen und Marisa fing an, sich vor ihm zu ekeln. Dieser einst liebenswerte Mann hatte Alex auf den Mund geküsst. Ein Schauer lief Marisa den Rücken hinunter und sie konnte ein leichtes Schütteln nicht unterdrücken.
„Wusstest du“, wandte sich Marisa an Alex, „dass Benny schwul ist?“
Jetzt schien Benny sich ein wenig unwohl zu fühlen, obwohl er noch immer ein Lächeln versuchte aufrecht zu erhalten, aber Marisa sah ihm an, wie es langsam in seinem Gesicht gefror.
„Ach, du bist also der …“, sagte Alex.
„Ja, genau der ist er. Benny ist der Mann, mit dem ich mich in den letzten Tagen immer wieder getroffen habe.“
„Na, das nenne ich wirklich einen Zufall“, sagte Alex und fing fürchterlich an zu lachen.
Ihr Lachen war weniger ansteckend, als irritierend. Was war daran so witzig? Bennys Gesicht entspannte sich etwas und mehr und mehr wurde sein Lächeln zu einem Lachen und am Ende lachte er mit Alex um die Wette, während Marisa neben ihnen saß und sich deplaziert fühlte.
„Dann ist es ja kein Wunder, dass wir uns auch über den Weg gelaufen sind. Marisa hat mir erzählt, dass ihr Bekannter gleich um die Ecke wohnt“, sagte Alex, noch immer lachend.
„Findest du das nicht merkwürdig?“, fragte Marisa.
„Nein, wieso? Das ist doch echt total witzig. Unglaublich finde ich das“, sagte Alex.
„Ja, das geht mir auch so“, sagte Marisa. „Erkläre mir nur bitte eines, warum hattest du heute für mich erst später Zeit?“
Sie sah Benny direkt in die Augen und versuchte zu ergründen, warum er sie angelogen und ihr Vertrauen derart missbraucht hatte.
„Was für eine selten dämliche Frage? Das siehst du doch“, sagte Alex, „er wollte sich vorher noch mit mir treffen.“
„Und wann genau wolltest du mich dann sehen?“
„Marisa, es is’ nich’ so, wie du denkst. Alex is’ ‘ne Freundin, genau wie du. Da is’ doch nix dabei. Außerdem bin ich dir keine Rechenschaft schuldig.“
„Stimmt, du hast recht. Vergiss es einfach.“ Marisa war aufgestanden und griff nach ihrer Tasche. „Ich geh dann mal und will euch bei eurem Date nicht weiter stören. Lass nur, Alex, die Rechnung übernehme ich.“
Noch bevor einer der beiden hätte etwas sagen können, war Marisa verschwunden.
So schnell es ging, rannte sie zum Empfang und bat dort, die Rechnung begleichen zu können. Sie rechnete damit, dass einer der beiden zu ihr kommen würde, um sich bei ihr zu entschuldigen. Aber nichts dergleichen passierte. Sie war sich nicht sicher, ob sie froh darüber sein sollte, oder noch mehr enttäuscht.
Nach einer gefühlten Ewigkeit konnte sie endlich das Restaurant verlassen. Draußen war es eisig und ein ungemütlicher Wind fegte ihr ins Gesicht. Schnell zog sie ihren Schal enger und die Handschuhe an. Auch wenn sie, wie immer, nur ihre Pumps trug, dieses Mal würde sie den Weg zum Appartement zu Fuß nehmen.
Der Schmerz kalter Füße konnte nicht so schlimm sein, wie der, wieder einmal enttäuscht worden zu sein und dass Alex es nach so vielen Jahren noch immer schaffte, ihr einen Mann zu nehmen. Auch wenn sie von dem gar nichts gewollte hatte, so war Benny doch ihr Freund gewesen. Er war etwas, dass für sie allein bestimmt war. Und nun musste sie wieder einmal feststellen, dass sich nichts in ihrem Leben geändert hatte.
Langsam wurde es Zeit, dass Bruder Michael kam, denn Tomasio verspürte den Drang, der Natur nachzugeben. Und hier in dem Zimmer würde er das sicher nicht tun. In der Höhle hatten sie einen Ort für derlei menschliche Bedürfnisse. Ein leichter Wasserfall spülte danach hinweg, was den Körper zuvor verlassen hatte. Aber hier sah er kein Wasser die Wände herunter gleiten und er war sich sicher, dass es einen anderen Raum dafür geben musste.
Das Klopfen an seiner Tür erschreckte Tomasio und er zuckte zusammen. Er wäre unendlich froh darüber gewesen, wenn diese ständigen Verunsicherungen ein Ende gehabt hätten. Er fühlte sich bisher immer stark und in seinem Alter sogar ein wenig weise, auch wenn er wusste, dass er im Gegensatz zum Rat verdammt jung und unerfahren war.
Aber durch seine Ausbildung hatte er doch den Eindruck gewonnen, etwas Besonders zu sein, mehr zu wissen und zu können, als all die anderen Bewohner der Höhle.
Die Tür wurde geöffnet und Bruder Michael steckte seinen Kopf hindurch.
„Bist du bereit zu lernen?“, fragte er.
Tomasio war aufgesprungen und stellte fest, dass Bruder Michael einen Kopf kleiner war als er. Das war ihm in der nächtlichen Dunkelheit nicht aufgefallen und er hatte keine Zeit gehabt, darauf zu achten.
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