Hatte sie denn keine Gefühle mehr für ihren Mann? Rebecca stellte sich diese Frage in der letzten Zeit öfter und wunderte sich über ihre Gelassenheit, wenn sie solche Gedanken von ihrem Mann und dieser Schiemke hatte.
Genau in diesem Moment sagte Martin, dass er noch mal wegmüsse, um sich zu vergewissern, dass er auch seinen Tresor im Büro abgeschlossen hatte. Es war schon nach 22 Uhr, eine sehr ungewöhnliche Zeit für Martin, der sich aufraffte und seine Jogginghose sogar auszog, um sich in seine bestsitzende Jeans hineinzuzwängen und sogar noch frisches Rasierwasser aufzutragen ... Mit den Worten: „Man weiß ja nie, wer mir noch begegnet unterwegs, da muss ich ja als Autohausbesitzer schon wenigstens ein bisschen was darstellen ...“ rechtfertigte er das auffällige Herrichten seines Äußeren.
„Warte nicht auf mich, Kleine ... Ich werd dann auch gleich noch was in der Buchführung fertig machen, wenn ich schon im Büro bin.“ Er gab ihr beim Hinausgehen einen flüchtigen Kuss und verschwand in Sekundenschnelle, als würde er schon erwartet werden.
„Kleine“, wie sie diesen Kosenamen hasste, sie Kleine zu nennen, das ist wirklich das Dümmste überhaupt, dachte Rebecca und schüttelte den Kopf. Nur weil ihr Geburtsname „Klein“ gewesen war.
„Was soll ich jetzt mit dem Abend anfangen? Mein Mann wird eine andere flachlegen, davon gehe ich jetzt mal aus, und ich ...“, dachte Rebecca und sah in diesem Moment ihre Gitarre leicht verstaubt in der Ecke stehen. Da kam ihr die Idee, endlich mal die Melodie zu spielen, die ihr schon seit einigen Tagen im Kopf herumspukte. Sie hatte ja auch schon lange einen Songtext dazu. In etwa so ...
Soll das schon alles sein?
1. Strophe
Ich steh hier im Regen, meine Haut ist ganz kalt und nass. Brauch ich Gottes Segen, oder doch vielleicht was ganz anderes?
Ich will mich neu erleben und fühlen, wie alles in mir brennt, will mich neu entdecken und spüren,
wie das Feuer mich wärmt ...
Refrain
Und dann stell ich mir die Frage, die meinen Kopf schon so lange sprengt!
Und endlich will ich leben, mich nicht mehr fragen:
„Soll das schon ALLES sein?“
Mein Leben braucht mehr Hitze und keine Eiszeit,
will die Liebe in mir spüren!
2. Strophe
Ich will so viel entdecken und fühlen, wie mein Herz wieder schlägt.
Will das Leben spüren, wenn die Hitze in mir das Eis zum Schmelzen bringt.
Ich will es mir beweisen, dass ich nicht umsonst so lang gewartet hab!
Bin mir da ganz sicher, dass ich es schaffe, und es allen zeigen kann!
Refrain
Und dann stell ich mir die Frage, die meinen Kopf schon so lange sprengt!
Und endlich will ich leben, mich nicht mehr fragen:
„Soll das schon ALLES sein?“
Mein Leben braucht mehr Hitze und keine Eiszeit,
will die Liebe in mir spüren!
3. Strophe
Ich will alles neu erleben und frei sein wie ein Vogel im Wind.
Will die Wärme spüren wie mein Ich mit seinem inneren Kind!
Will alles neu entdecken und kämpfen, wie ’ne Löwin das macht!
Brauche neue Ziele, hab schon zu lang geträumt bei Tag und bei Nacht!
Refrain (2x)
Und dann stell ich mir die Frage, die meinen Kopf schon so lange sprengt!
Und endlich will ich leben, mich nicht mehr fragen:
„Soll das schon ALLES sein?“
Mein Leben braucht mehr Hitze und keine Eiszeit,
will das Feuer in mir spüren!
Nick, der Nachhilfelehrer für Stina
Rebecca machte sich gleich am nächsten Morgen daran, in der Zeitung nach einer Nachhilfe für Stina zu suchen.
„Hör mal“, sagte sie zu Klara ins Telefon, „Philosophiestudent aus England gibt gern Nachhilfe in Englisch ... Das hört sich doch ganz gut an, oder? Meinst du, ich soll den gleich mal anrufen?“
„Ja sicher, würd ich mal probieren. Stina braucht doch dringend jemanden ... und wenn das ein Typ ist, dann lernen die Mädels ja noch viel lieber, oder?“, kicherte Klara, die sich dabei an alte Zeiten mit Rebecca erinnerte.
Klara und Rebecca kannten sich seit der siebten Klasse auf dem Gymnasium, als Rebecca mit dreizehn Jahren mit ihren Eltern von Hamburg nach Heidelberg gezogen war.
Es war gleich Liebe auf den ersten Blick zwischen den beiden, eine Wellenlänge, obwohl Rebecca so groß und schlank war und Klara eher klein und pummelig – vom äußeren Erscheinungsbild passten sie nicht zusammen, aber sie konnten sofort über vieles gemeinsam lachen und hatten den gleichen Musik- und Filmgeschmack.
„Hallo, hier ist Rebecca Schönemann. Bin ich richtig verbunden? Ich rufe an wegen der Annonce ... Sie geben doch Nachhilfe in Englisch, oder?“, vergewisserte sich Rebecca.
„Jep, Nick mein Name, sorry ... Ich komme aus England, Birmingham, und studiere hier schon seit drei Jahren Philosophie“, antwortete Nick freundlich.
„Meine Tochter hängt gerade ziemlich durch in der Schule und wackelt in Englisch, achte Klasse. Könnten Sie zweimal in der Woche zu uns nach Hause kommen?“, hakte Rebecca nach.
Sie verabredete sich mit Nick für nächsten Donnerstag für ein Probelernen.
Rebecca teilte Stina mittags gleich mit, dass sie einen Nachhilfelehrer für sie gefunden hatte.
„Ein Student, also ein Mann?“, gab Stina entsetzt von sich.
„Ja, und? Ist das denn ein Problem für dich? Er hörte sich sehr nett an, und er kommt sogar aus England“, versuchte Rebecca zu besänftigen.
Stina murrte noch ein wenig herum, aber schließlich hatte sie ja keine andere Wahl als nachzugeben. Sie musste bis zum Sommer in Englisch besser werden, sonst hätte sie ein ernstes Problem mit der Versetzung in die nächste Klasse.
Donnerstag um fünf Uhr nachmittags kam Nick zu Familie Schönemann.
Stina hatte sogar extra ihr Zimmer aufgeräumt und ihre Haare frisch gewaschen, was sie sonst eher selten machte, mit der Begründung, dass es Wasserverschwendung sei, sich so oft zu waschen, und man ja die Umwelt damit schädigen würde.
Annika öffnete Nick die Tür, sie wollte gerade zu ihrem neuen Freund und war mal wieder total aufgestylt. Ihre langen blonden Haare hatte sie geglättet und sich geschminkt, als würde sie in eine Disco gehen.
„Hi, komm doch rein, Stina wartet schon. Du musst der Nachhilfelehrer sein. Ich bin Annika, die große Schwester von Stina“, flirtete Annika. Das tat sie besonders gern, wenn Männer jung und attraktiv waren.
Ganz kurzes Profil von Nick ...
Nick war 24 Jahre jung, 1,78 m groß und trug etwas längere, rotgelockte Haare. Sein Gesicht war mit Sommersprossen übersät, und er hatte smaragdgrüne Augen.
Rebecca stellte sich ihm vor und führte ihn zu Stina in ihr Zimmer.
Stina wurde rot im Gesicht und stotterte vor Verlegenheit herum, als Nick fragte, ob er mal ihr Englischbuch sehen dürfte, um sich zu informieren, was Stina gerade im Unterricht lernte.
„Möchten Sie etwas trinken?“, fragte Rebecca höflich.
„Wir können uns gern auch duzen. Ich bin, wie gesagt, Nick!“ Er streckte Rebecca seine Hand entgegen, als wäre das Du damit geklärt.
Rebecca zögerte erst ein wenig, aber sie konnte seinem Charme nicht widerstehen und wollte auch nicht so bieder wirken.
„Und, wie war die erste Stunde?“, fragte Annika am Abend ihre Schwester mit einem Augenzwinkern.
„Jedenfalls nicht so, wie du wieder denkst. Ich denke, ich kann was bei ihm lernen, er kann echt gut erklären ...“, motzte Stina und biss in ihre Karotte.
„Jetzt zickt euch nicht wieder an ... hab da gerade echt keine Lust drauf.“
„Wann gibt es endlich Abendessen?“, drängelte Till.
„Papa kommt gleich, wir warten noch ein paar Minuten ...“ Doch Rebecca war sich nicht sicher, ob Martin nicht schon längst gekommen war, nur auf eine andere Weise, und das Abendessen vielleicht ganz dabei vergessen hatte.
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