Stina dagegen, mit 14 Jahren die Mittlere, beschwerte sich nur darüber, dass es zu wenig Rohkost gäbe und selten Lebensmittel aus eigenem Anbau, sie war der Gesundheitsapostel der ganzen Familie Schönemann.
Annika war die Partylöwin, die sich zwar gerade in der 11. Klasse der Oberstufe damit quälte, in Mathematik von ihren vier Punkten im Zeugnis wegzukommen, aber trotzdem nur Feten und Chillen im Kopf hatte. Das musste wohl das Alter sein, sie war gerade sechzehn geworden.
Kurze Vorstellung von Rebecca Schönemann
Rebecca Schönemann war 39 Jahre „jung“, wie sie es oft betonte, und eine große Schönheit, das heißt, sie war für eine Frau groß mit ihren 1,87. Damit kämpfte sie schon seit ihrer frühen Jugend, denn wenn sie sich verliebte, dann immer in kleinere Männer, und das machte ihr schwer zu schaffen. So kam es, dass sie wenige Freunde in ihrem Leben hatte, sie schämte sich so für ihre Größe und hatte viele Minderwertigkeitskomplexe. Mit 18 Jahren lernte sie ihren Mann kennen, Martin Schönemann, er war der Schönling der Oberstufe und wollte ausgerechnet mit Becci gehen, die doch sonst wegen ihrer Größe keine Chancen hatte. Mit 23 Jahren wurde Becci bereits schwanger, mit Annika, und brach ihr Marketingstudium ab. Sie wollte eigentlich in die Werbebranche. Martin dagegen hatte viel damit zu tun, das Autohaus seines Vaters weiterzuführen, er wollte es ja irgendwann übernehmen. Es war eines der florierendsten Autohäuser in Heidelberg und Umgebung.
So gingen die Jahre ins Land, es folgten noch die beiden anderen Kinder, und die Ehe erlebte Höhen und Tiefen. Doch im Großen und Ganzen widmete Becci ihre Zeit ganz zufrieden den Kindern, dem Haushalt und ihrer Musik. Sie sang für ihr Leben gern und spielte Klavier und Gitarre, wenn es ihr nur die Zeit erlaubte. Außerdem musste sie auch die Vorzeigegattin ihres Mannes spielen, wenn sie im Geschäft an Wochenend-Aktionen mithalf, um einen guten Eindruck bei den neu geworbenen Kunden zu machen. Immerhin wurde hier eine der besten deutschen Automarken verkauft. Das betonte Martin immer wieder, wenn er sich bei Freunden wichtigmachen musste: Dass sein Vater eines der lukrativsten Mercedes-Autohäuser besäße und er es dann ganz bald weiterführen würde. Das waren so die Momente, in denen sich Becci für Martin schämte, sie konnte einfach mit seiner Art nicht klarkommen. Sie war eher diejenige, die sich versteckte, auch wenn sie das schlecht konnte, schon allein wegen ihrer 187 Zentimeter. Aber abgesehen davon war sie schon ein echter Hingucker. Sie hatte lange, blonde Locken und himmelblaue Augen. Man konnte ihr auch nicht ansehen, dass sie schon drei Kinder zur Welt gebracht hatte. Sie hatte eine sehr sportliche Figur, wirkte aber trotzdem weiblich mit Rundungen an den richtigen Stellen, nur war sie sehr schüchtern und nutzte ihre Vorteile viel zu selten.
Viele Frauen in ihrem Alter beneideten Rebecca für ihre jugendliche Ausstrahlung und ihre makellose Figur, aber das nutzte Rebecca auch nichts, denn sie hatte diese furchtbaren Minderwertigkeitskomplexe und auch schon mehrere Psychotherapeuten deswegen aufgesucht, aber keiner konnte ihr helfen.
... immer noch Mittwochmittag
Stina kam nach Hause, mit einem Brief von ihrem Klassenlehrer.
„Ich brauche Nachhilfe ... brauchst den doofen Brief erst gar nicht zu öffnen ...“ Stina verzog das Gesicht, als würde gleich die Welt untergehen und sie vom Erdboden verschluckt werden, und dabei konnte sie doch nichts dafür, sie hat doch immer so viel gelernt. „Die blöden Lehrer sind daran schuld“, dachte Stina und drückte jetzt ein paar Tränen hervor.
„Jetzt sei doch nicht so traurig, ich lese den Brief und dann reden wir in Ruhe darüber“, versuchte Rebecca, ihre vierzehnjährige Tochter zu beruhigen, dabei ging ihr ständig eine Melodie im Kopf herum, die sie schon den ganzen Morgen vor sich hin summte.
Rebecca erfand gern eigene Songs, aber sie kam leider viel zu wenig dazu, ihre Lieder aufzuschreiben oder gar zu spielen. Das Klavier musste sowieso dringend gestimmt werden. Sie hatte es schon lange, seit Weihnachten, nicht mehr benutzt.
Sie fand einfach keine Zeit, ihre Kreativität auszuleben. Ständig gab es etwas anderes, worum sie sich kümmern musste. Probleme in der Schule bei Stina, Liebeskummer bei Annika, die immer wieder einen neuen Freund hatte, der sie dann unglücklich machte. Und der kleine Till war krank, er hatte Asthma, schon als Kleinkind, und Rebecca musste oft mit ihm zum Arzt. Nachts bekam er keine Luft, und beim Sport in der Schule konnte er nicht mithalten. Er konnte nicht so lange laufen wie seine Schulkameraden, wenn sie für ein Fußballspiel Ausdauertraining machten. Deshalb wurde er von einigen aus seiner Klasse auch gehänselt und wendete sich immer mehr seinem Computer zu. Das alles machte Rebecca sehr viele Sorgen. Die konnte sie aber nicht abends mit Martin besprechen, weil der wiederum ganz andere Probleme mit dem Autohaus hatte und nichts mehr hören wollte, wenn er abends um acht Uhr nach Hause kam. Er nahm sich dann eine Flasche Rotwein aus dem Keller, genehmigte sich ein, zwei Gläser vor dem Kaminofen und schaute dabei Sport im Fernsehen.
Rebecca hatte immer mehr die Nase voll von diesem Leben. Sie musste ständig zurückstecken und konnte sich selbst nicht mehr verwirklichen. Das hatte wohl begonnen, als sie mit Annika schwanger wurde. Immerhin schenkte Martin ihr einmal im Jahr ein Wochenende in einem Wellness-Hotel, das sie aber meistens mit ihrer Freundin Klara zusammen verbrachte, weil Martin entweder geschäftlich zu sehr eingespannt war oder er auf die Kinder aufpassen musste, weil Rebeccas Eltern keine Zeit hatten, die selbst gern und oft verreisten.
Nach dem Abendessen ging Rebecca in Stinas Zimmer, um mit ihr über den Elternbrief zu reden.
„Deine Lehrerin möchte mir nur mitteilen, dass du auch in Englisch bei fünf Punkten stehst und sie rät mir, dir eine Nachhilfe zu besorgen. Das ist doch nicht schlimm, das bekommen wir schon wieder hin, meine Süße, oder?“ Rebecca streichelte Stina über den Kopf und strich dabei eine blonde Strähne aus ihrem verweinten und erhitzten Gesicht.
„Meinst du, ich schaffe die achte Klasse überhaupt? Ich will nicht noch ’ne Ehrenrunde drehen ...“, weinte Stina in ihr Kissen und schlug mit den Fäusten gegen die Matratze.
„Ach Stina, du hast doch wirklich noch Zeit, gleich morgen schauen wir nach einer geeigneten Nachhilfe für Englisch, und dann wirst du das auch schaffen, ganz sicher“, beteuerte Rebecca.
Kurzer Einblick zu Martin Schönemann
Martin saß schon leicht angetrunken vor seinem zweiten Glas Rotwein und verfolgte einen „Tatort“-Krimi, als Rebecca müde aus Stinas Zimmer zurück ins Wohnzimmer kam.
Es war wie an jedem Abend. Martin schaute irgendetwas im Fernsehen an, und Rebecca legte sich auf das Sofa daneben und versuchte einfach abzuschalten. Die beiden hatten sich schon lange nicht mehr viel zu sagen. Manchmal überkam es, und sie hatten Sex, aber auch das wurde immer seltener in letzter Zeit, und Rebecca hatte die Befürchtung, dass Martin vielleicht sogar ein Verhältnis mit einer Kundin oder seiner jungen Sekretärin hatte. Er sah mit seinen einundvierzig Jahren noch sehr attraktiv und jung aus. Er kleidete sich schon immer gut und legte auch sonst sehr viel Wert auf sein Äußeres, fast mehr, als Rebecca es tat.
Also warum sollte er nicht eine andere haben und es ihr so richtig besorgen, nachdem das Büro im Autohaus geschlossen war? Rebecca malte sich schon manchmal aus, wie Martin diese junge Schiemke auf dem Schreibtisch wild nahm, und diese dann im fiepsig stöhnenden, sächsischen Dialekt seinen Namen keuchte, ungefähr so: „Öh Mardiin , öh jö du bist so en wildor Hengst ... jo besörg es mir wiedo ... dene Frau weß jö gönichd, wasse ön dir hod ...“, und dabei krallte sie dann bestimmt ihre künstlichen Fingernägel in Martins Rücken. Das Kopfkino brachte Rebecca aber eher zum Schmunzeln und nicht zu rasender Eifersucht, und genau das verwunderte sie sehr ... da stimmte doch was nicht.
Читать дальше