Jetzt stand sie auf, legte den roten Mantel und die Zipfelmütze ab, dann zog sie langsam ihre Jeans und ihren gestreiften Pullover an.
Martin blieb auf dem Bett liegen. Er war sauer. Mit Weihnachten hatte er zwar nicht viel am Hut, aber allein sein am Heiligen Abend, das wollte er auch nicht. Seine Eltern waren geschieden, und er hatte kaum noch Kontakt zu ihnen. Der Vater war beruflich im Ausland. Die Mutter wohnte bei ihrem neuen Liebhaber, rund fünfhundert Kilometer entfernt. Eine Karte hatte sie ihm zu Weihnachten geschrieben: „Ich hoffe, dir geht’s gut, mein Junge. Melde dich mal wieder!“ Ja, das würde er tun. Irgendwann. Aber nicht heute. So sentimental war er nun auch wieder nicht. Vielleicht im neuen Jahr.
Martin sah Manuela wortlos zu, wie sie sich fertig machte zum Gehen. Er hasste Familienfeste. Und er konnte überhaupt nicht verstehen, warum ihn Manuela heute Abend im Stich ließ. Sie hätten es sich in ihrer gemeinsamen Wohnung gemütlich machen können. Vielleicht zusammen etwas kochen oder eine Pizza bestellen. Und danach – ja, da wäre ihm auch schon was eingefallen. Aber das schien ihr egal zu sein. Familie und Tradition waren ihr eben wichtiger. Und dann natürlich ihr Pflichtbewusstsein. Es gehörte zu Manuelas typischen Eigenschaften. Wurde ihr wahrscheinlich auf der Arbeit eingetrichtert. Bei der Bahn. Trotz Privatisierung hatten sie da eben immer noch die alte Beamtenmentalität. Und Manuela liebte ihren Job. Das hatte sie ihm oft genug erzählt. Am liebsten machte sie den Schalterdienst am Bahnhof. Fahrkarten verkaufen. Mit Menschen zu tun haben. Dabei konnte das alles gar nicht so aufregend sein für jemanden mit Abitur wie sie. Einmal Köln und zurück. Wie bitte, 18 Mark? Für die paar Kilometer? Martin hatte Manuela mehrmals bei der Arbeit besucht. Viele Bahnkunden ließen an ihr den Frust ab, wenn sie sich über den Fahrpreis ärgerten oder über den Zug, der wieder mal Verspätung hatte. Aber Manuela blieb immer freundlich. Und doch bestimmt. So wie jetzt gerade.
Ach, sollte sie doch abhauen! Er würde sich auch ohne sie amüsieren.
„Tschüss dann“, sagte Manuela knapp und kramte in ihren Manteltaschen nach dem Autoschlüssel. „Ich muss jetzt. So gegen halb zehn/zehn bin ich wieder zurück.“
„Meinetwegen. Mach', was du willst.“ Martin wälzte sich im Bett zur Seite, starrte die Wand an und schmollte still vor sich hin.
Manuela zögerte einen Moment und unterdrückte den Wunsch ihm einen Abschiedskuss zu geben. Als keine Reaktion mehr von ihm kam, verließ sie missmutig die Wohnung, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Er ist neidisch, dachte sie, als sie im Treppenhaus stand. Neidisch, weil er selbst keine Familie hat, die er zu Weihnachten besuchen kann. Und er tat ihr sogar ein bisschen Leid. Vielleicht würde er sich doch über eine eigene kleine Familie freuen? Ich muss es ihm sagen. So bald wie möglich. Am besten heute noch.
Draußen schneite es. Dicke Flocken fielen vom Himmel. Die frische Schneedecke in Röhrdorf war schon mindestens zehn Zentimeter hoch. Eine weiße Weihnacht. Die erste seit vielen Jahren. Manuela war noch ein Kind gewesen, als zum letzten Mal an den Feiertagen Schnee gelegen hatte. Ein seltsames Hochgefühl kam in ihr auf. Sie stieg in ihren VW-Polo, startete den Motor und fuhr vorsichtig, ganz vorsichtig, zum Haus ihrer Eltern.
18:22 h
„Ich glaub', ich nehm' den Fifty-fifty-Joker.“ Schwester Ellen sah ihre Mitspieler fragend an.
„Wenn es dir weiterhilft.“ Oberschwester Gertrud zuckte die Achseln. So oft hatten sie das Quiz schon gespielt, aber Schwester Ellen kapierte einfach nicht, in welcher Situation welcher Joker am sinnvollsten ist.
„Du kannst auch die Zuschauer befragen, also uns“, schlug Manfred Gerling vor, der dienstälteste Pfleger in der Psychiatrischen Klinik von Biedenstadt. Er meldete sich immer freiwillig an Heiligabend zum Dienst. Auf ihn wartete niemand zu Hause. Der Mann mit dem imposanten Schnauzbart war verwitwet und arbeitete nebenan in der Geschlossenen Abteilung. Aber jetzt hatte er Pause und leistete den Kolleginnen in der Offenen ein wenig Gesellschaft. Ein Stündchen bei Tee und Weihnachtsplätzchen – und natürlich bei der liebsten Pausenbeschäftigung der Schwesternrunde: bei Wer wird Millionär?
„Meinst du wirklich?“, fragte Schwester Ellen jetzt wieder unsicher.
„Das musst du schon selbst entscheiden.“ Oberschwester Gertrud wurde langsam ungeduldig. „Es geht schließlich um 32.000 Mark.“ Ein Wunder, dachte sie, dass ihre junge Kollegin überhaupt so weit gekommen war. Meistens scheiterte Ellen schon bei den leichteren Fragen. Eine typische Blondine eben, ging es der Oberschwester durch den Sinn, und sie musste unwillkürlich lächeln. Nicht die Allerhellste, unsere Ellen, aber dafür hat sie das Herz auf dem rechten Fleck. Das muss man ihr lassen.
„Dann nehm' ich den Publikums-Joker.“ Schwester Ellen schaute herausfordernd in die Runde. „Ihr müsst aber ehrliche Antworten geben.“
„Klar doch“, sagte Oberschwester Gertrud.
„Also, nochmal: Wo findet man das Schloss Christiansborg?“, las Dr. Alexander Braun, der junge Assistenzarzt vor. „A: in Oslo; B: in Stockholm; C: in Kopenhagen; oder D: in Malmö?“
„Ich hab', ehrlich gesagt, keine blasse Ahnung“, sagte Schwester Ursula. „Das müsstest du doch wissen.“ Sie schaute zu ihrer Kollegin Eva hinüber. „Du liest doch immer in den Illustrierten die Geschichten über die Königshäuser.“
Schwester Eva runzelte nur die Stirn. „Ich weiß es aber auch nicht.“
„Ihr müsst trotzdem einen Tipp abgeben“, belehrte sie die Oberschwester.
„Ich glaube, es ist Oslo“, sagte der schnauzbärtige Pfleger.
„Bist du sicher?“, wollte Schwester Ellen wissen.
„Nein, sicher bin ich mir nicht.“
„Ich denke, es ist Malmö“, meinte der junge Assistenzarzt.
„Dann schließ' ich mich Ihnen an“, sagte Schwester Ursula. „Sie haben schließlich studiert.“
„Aber nicht Geografie“, wandte Dr. Braun ein.
„Ich tippe auf Stockholm“, verkündete die Oberschwester. „Aber ich bin mir auch nicht sicher.“
„Na, toll“, sagte Schwester Ellen. „Ihr seid mir ja eine schöne Hilfe. Zwei Stimmen für Malmö, eine für Oslo und eine für Stockholm. Wisst ihr was? Ich traue keinem von euch. Ich entscheide mich für Kopenhagen. Also Antwort C.“
„Bist du verrückt?“, fragte Schwester Ursula.
„Vielleicht ja. Vielleicht auch nicht. Wir werden ja sehen, wer Recht hat. Also, wie heißt denn nun die Lösung?“
Alex Braun drehte die Karte um und gab einen heiseren Kiekser von sich. „Das gibt’s doch gar nicht!“, stieß er überrascht hervor. „Schwester Ellen hat Recht. Schloss Christiansborg liegt tatsächlich in Kopenhagen.“
„Echt?“, freute sich Ellen. „Seht ihr. Ein bisschen Verrücktheit hat noch keinem geschadet.“
Da musste sogar Oberschwester Gertrud grinsen.
„Die nächste Frage bitte, Alex. Diese Glückssträhne muss ich ausnutzen.“ Schwester Ellen biss in ein Anisplätzchen und krümelte die Tischdecke voll. Die Oberschwester warf ihr einen missbilligenden Blick zu, aber Ellen war zu abgelenkt, um es zu bemerken.
„Okay, 64.000“, sagte der Doktor, „32.000 haben Sie schon sicher. Die nächste Frage können Sie also ganz ruhig angehen.“
„Alex, Sie reden genau wie Günther Jauch“, sagte Schwester Ellen, deren Schwäche für den gutaussehenden Assistenzarzt längst kein Geheimnis mehr war. Die halbe Klinik tuschelte schon darüber. Und auch er schien, was die hübsche kleine Ellen betraf, nicht gänzlich abgeneigt.
„Es ist gleich halb sieben. Ich müsste mal meinen Kontrollgang machen“, sagte Oberschwester Gertrud und erhob sich umständlich von ihrem Stuhl. In dem kleinen Aufenthaltsraum war es so eng, dass sie den Tisch verschieben musste, um überhaupt aufstehen zu können.
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