„Hast du wenigstens herausbekommen, wo dieses Brescho- oder Brechoarde liegt?“, wollte Richard wissen.
„Ein Brechoarde hab’ ich nicht gefunden. Aber dann bin ich auf die Idee gekommen, dass ja auch Bresoarde oder Bressoarde gemeint sein könnte, so vernuschelt, wie die reden. Und tatsächlich, es gibt ein kleines Dorf mit dem Namen Bressoarde im französischen Mittelgebirge, nicht allzu weit von St. Etienne, etwas südlich von Le Puy.“
„Na, das ist doch schon mal wenigstens etwas“, kommentierte Richard.
„Falls dieses Dorf gemeint ist“, schränkte Tabea ein. „Aber der Dialekt der Befragten könnte schon dazu passen.“
„Also, wenn ich zusammenfassen darf“, meinte Richard, „wir wissen immerhin aus diesen Bändern, dass in irgendeiner abgelegenen Gegend im südlichen französischen Mittelgebirge die Menschen noch an Hexen glauben.“
„Nicht sonderlich überraschend“, brummte Theo, der die ganze Zeit nur damit beschäftigt gewesen war, in die Umgebung zu starren, und Tabea noch nicht einmal mit einem Kopfnicken begrüßt hatte.
„Es ist anscheinend eine Gegend“, fuhr Richard fort, „wo es Felsen gibt, einen Turm und irgendwelche ‚Schwarzen’. Am interessantesten finde ich die Sache mit dem verschwundenen Baby, weil es genau die gleiche Geschichte in der Gegend um Edirne gibt.“
„Das ist ja heiß“, staunte Tabea. „Gibt es auch Hexen in diesem Edirne?“
„Nein, nur Engel“, berichtigte Richard. „Aber es sind nicht unbedingt gute Engel. Zumindest gibt es Parallelen zwischen den Legenden von Edirne und Bressoarde. In diesen Interviews, ging es da auch mal um Raben?“
„Nein“, erklärte Tabea, „aber ich habe wirklich nicht viel verstanden. Ich will also nicht ausschließen, dass nicht doch irgendwo von einem Raben gesprochen wurde.“
„Auf jeden Fall war der Vogel sowohl auf der Zeichnung von Martin Fink zu sehen als auch auf dem Fresko in Edirne“, stellte Richard fest. „Genauso wie der Engel und diese komische Pflanze.“
Er wandte sich an Theo. „Warst du eigentlich im botanischen Garten?“
Theo drehte sich langsam um. „Wer? Ich?“, fragte er nach, aus seinen trüben Gedanken gerissen.
„Wer denn sonst?“, meinte Tabea genervt.
„Natürlich war ich dort“, erklärte Theo. „Ich bin dort wenigstens einmal in der Woche.“
„Und?“, wollte Richard nach einer Pause wissen.
„Was und?“
„Hast du die Pflanze identifizieren können, die du auf der Baustelle entdeckt hast?“
Theo dachte eine Weile nach.
„Nein. Diese Art gibt es nicht im botanischen Garten.“
„Die Spur können wir also streichen“, bemerkte Tabea.
„Aber die Art stammt doch aus Südamerika?“, hakte Richard nach.
„Weiß nicht“, maulte Theo. „Ist mir egal. Ich hab’ eh vergessen, sie zu pressen.“
Tabea wirkte, als wollte sie aufbrausen, aber sie beherrschte sich. Inzwischen war sie ja schon einiges von Theo gewohnt. „War vielleicht auch nicht so wichtig“, seufzte sie.
„Ist eh alles nicht so wichtig“, sagte Theo leise. „Was kümmern mich diese Sekten. Was kümmert mich das Mittelalter. Ist doch sowieso alles egal.“
„Das ist nicht egal“, widersprach Tabea. „Wir sind extra hier herauf gekommen, auf deinen Platz, um die Rätsel hier zu diskutieren, mit dir zusammen.“
„Und?“
Jetzt platzte Tabea doch noch der Kragen. „Wir sind auf jeden Fall nicht hier heraufgekommen, um deinen verdammten Depri-Trip mit anzusehen! Du bist nicht allein auf der Welt, also denk nicht dauernd an die blöde Scheiße, in der du steckst, denk auch mal an andere und hilf uns gefälligst bei unseren Recherchen!“
Richard erwartete, dass sein Freund nun mit gleicher Vehemenz entgegenhalten würde, aber Theo schwieg eine Weile, um dann genauso leise und irgendwie abwesend zu antworten wie zuvor.
„Na gut, dann helfe ich euch eben. Ist doch eh egal.“ Theo starrte weiter ins Leere.
Tabea schien am Rande der Verzweiflung zu stehen. Erschöpft wandte sie sich ab. Richard befürchtete, sie würde ihre Sachen packen und gehen.
„Andere haben auch ihre Probleme“, murmelte sie stattdessen ein wenig müde, und Richard wusste, dass sie an Kai dachte.
„Ich habe sowieso keine Ahnung, wie ich euch Geisteswissenschaftlern helfen kann“, gab Theo von sich, genauso teilnahmslos wie zuvor. „Aber wie gesagt, es ist mir egal, ich versuche mein Bestes, also macht weiter.“
„Gut“, versuchte es Richard nach einer etwas ratlosen Pause von neuem. Seinem Freund ging es schlechter als sonst. Und das hatte sicher einen ganz bestimmten Grund, aber Theo jetzt danach zu fragen, wäre verlorene Liebesmüh gewesen, soweit kannte Richard seinen Freund. „Ich zeige euch jetzt mal die Übertragung des Originaldokuments aus Martin Finks Akte“, begann er vorsichtig und packte die Zettel aus, die er mitgebracht hatte. Tabea schaute mit mäßigem Interesse in die Schriftstücke, Theo blieb regungslos sitzen.
Richard begann trotzdem zu erklären, was Victor herausgefunden hatte, auch wenn er sich dabei ziemlich unwohl fühlte.
Zumindest gelang es ihm, Tabeas Interesse wieder zu wecken. „Jedes vierte Wort ist also entzifferbar?“, hakte sie nach.
„Und die beiden ersten Sätze“, ergänzte Richard. „Die Letzten werden die Ersten sein“, trug er vor. „Das ist ein Bibelspruch. Victor war der Meinung, dieser Spruch bezieht sich auf die Methode der Verschlüsselung. Die Buchstaben des Alphabets wurden einfach vertauscht und die ersten wurden zu den letzten.“
„Klingt einleuchtend“, stimmte Tabea zu.
„Das ist unlogisch“, mischte sich unvermutet Theo ein. Richard und Tabea drehten sich überrascht zu ihm um.
„Warum sollte der Autor die Verschlüsselung eines Textes erst dann verraten, wenn der Text entschlüsselt ist?“, erläuterte Theo seine These und versank wieder in seine Teilnahmslosigkeit.
„Das ist wahr“, räumte Richard ein. „Aber dann haben wir noch dieses Rätsel: Ein Turm bedinget die Verirrung, durch Feuer endet die Verwirrung; im Norden Kraft, im Süden halb der Mond, im Westen Heiligkeit, im Osten Weisheit wohnt. Namen im Spiegel . Wir haben nicht herausgefunden, was das bedeuten könnte.“
„Die vier Himmelsrichtungen“, raunte Tabea. „Warum? Vielleicht bezeichnen sie Länder?“
„Daran haben wir auch schon gedacht“, teilte Richard mit. „Kraft steht für ein nordisches Volk, vielleicht sind die Wikinger gemeint, der Halbmond steht für Arabien, die Heiligkeit für den Papst in Rom und die Weisheit für Indien oder China.“
„Aber was soll das mit dem Turm und dem Feuer bedeuten?“, fragte Tabea.
„Vielleicht bezieht sich das auf den Turm, der in den Interviews erwähnt worden ist“, mutmaßte Richard. „Und das Feuer steht für die Hexenverbrennungen.“
„Ja“, ergänzte Tabea. „Verirrung durch die Sektierer, die im Turm wohnten, und Ende der Verwirrung durch die Scheiterhaufen für die Ketzer.“
„Aber was hat das alles mit den Himmelsrichtungen oder Ländern zu tun?“ wandte Richard ein, und darauf fand auch Tabea keine Antwort.
Einige Minuten herrschte Schweigen. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und langsam begann es zu dunkeln.
„Vielleicht ist das Rätsel ja der Schlüssel zur Entzifferung des restlichen Textes“, unterbrach schließlich Theo die Stille.
„Ein Schlüssel?“, zweifelte Richard.
„Das wäre logisch“, bekräftigte Theo seine Hypothese. „Den ersten Code herauszufinden, ist einfach. Deshalb erhält man den Schlüssel hierzu erst nach der Entzifferung des ersten Textes, sozusagen als Bestätigung. Der zweite Code ist schwieriger. Deshalb verrät uns der Autor diesen Schlüssel schon vorher.“
„Klingt wirklich logisch“, gab Richard zu. „Aber was bedeuten dann der Turm und das Feuer?“
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