Richard ging in Richtung der Lärmquelle, schon weil er sonst keine Idee hatte, wo er Theo suchen sollte. Und tatsächlich, die Vögel wiesen ihm den Weg. Am Rand des Abhangs saß Theo und starrte auf die Stadt hinunter. Er wirkte noch düsterer und hagerer als sonst.
„Seit wann sprichst du mit Elstern?“, wunderte sich Richard halblaut.
Langsam drehte Theo sich um. Kein Zucken seiner Miene verriet, dass er sich über Richards Erscheinen freute. Richard war sich noch nicht einmal sicher, ob Theo ihn überhaupt wahrnahm.
Theo wandte seinen Blick wieder der Stadt zu. „Man kann sich seine Gesprächspartner nicht immer aussuchen, mein Freund“, brummelte er und schwieg.
„Soll ich wieder gehen?“, erkundigte sich Richard nach einer Weile, doch Theo ignorierte seine Frage.
„Sie sind nur am Meckern, diese Vögel“, gab er von sich, „kaum einmal ein Scherz oder eine positive Bemerkung.“
Ein Auto brummte den schmalen Lieferantenweg unterhalb von seinem Aussichtspunkt zu einem nahegelegenen Ausflugslokal hinauf. Theos Gesichtsausdruck wurde noch finsterer.
„Sie haben auch vollkommen recht, die Biester“, bemerkte er bitter. „Das ist schon das elfte Auto, das verbotenerweise hier hoch fährt, seit ich hier sitze.“
„Und?“
„Schau dir einmal die Straßen da unten an. Dieser Verkehr, er wird immer schlimmer. Immer schlimmer und schlimmer. Immer mehr Abgase, immer mehr Gift wird in unsere Atmosphäre geblasen. Der Wald stirbt, aber das ist allen scheißegal. Über zehn Prozent aller Krebserkrankungen werden durch die Umweltverschmutzung verursacht, aber interessiert das jemanden? Die Luft wird schlechter und schlechter, es macht keine Freude mehr, sie einzuatmen. Die Stadt stinkt, mein Freund, die Stadt stinkt – Wie bist du hier rauf gekommen?“
„Mit dem Fahrrad“, erwiderte Richard wahrheitsgemäß, erwähnte aber lieber nicht, dass er nur deshalb kein Auto fuhr, weil er es sich nicht leisten konnte.
„Sehr lobenswert“, kommentierte Theo. „Dreißigtausend Tote im Jahr, allein in Deutschland, nur durch die Autofahrer, und diese Zahl steigt an. Das ist Mord, mein Lieber, das ist nichts anderes als Mord, ein Holocaust, an dem sich alle beteiligen, hier ‚in diesem unserem Lande’.“
Richard erkannte, dass Theos Stimmung noch weit schlechter war als er befürchtet hatte. „Du hast sie nicht gesehen?“, fragte er mitfühlend.
„Lenk nicht ab“, wies Theo ihn zurecht. „Und wer kriegt den Schlamassel am heftigsten ab? Die Kinder, weil nämlich die Schadstoffe in den Abgasen schwerer sind als Luft und sich in Bodennähe konzentrieren. Hast du das gewusst?“
„Nein“, räumte Richard kopfschüttelnd ein. Ob sein Freund nun Recht hatte oder nicht, hoffentlich ging das nicht noch stundenlang so weiter.
Doch Theo hatte sich in Fahrt geredet. „Aber das ist denen da unten egal“, fuhr er fort. „Sie steigen in ihre heilige Kuh und fahren und morden und quälen. Weißt du, dass der Kohlendioxidgehalt in unserer Luft mehr und mehr zunimmt? Weißt du, was das heißt? Dass es immer wärmer wird auf unserem Planeten. Dass wir immer mehr Stürme und Überschwemmungen haben werden. Aber kümmert die das? Ich sage dir, mein Freund, wenn in zwanzig oder dreißig Jahren die Polkappen schmelzen, wenn Stürme und Tornados hierzulande an der Tagesordnung sind, wenn die Kinder alle heiser geworden sind und sich mit Asthma und anderen Atemwegserkrankungen herumschlagen, glaubst du, dass dann die Menschen zur Vernunft kommen? Ich sage, nein, aber das wird dann auch egal sein, weil es dann eh zu spät ist, und die Menschheit untergehen wird.“
Er legte eine Pause ein, um seine Worte besser wirken zu lassen.
„So, das musste mal gesagt werden.“ Er lehnte sich zurück und atmete tief durch.
„Geht’s dir jetzt besser?“, wollte Richard wissen.
„Nein“, antwortete Theo. „Nummer zwölf“, notierte er dann, als ein weiteres Auto zur Gaststätte hinauftuckerte. „Ich habe sie übrigens nicht gesehen, nur um deine Frage von vorhin zu beantworten.“
„Dachte ich mir doch.“
„Es ist, als hätte es sie nie gegeben“, erklärte Theo. „Niemand will sie gesehen haben, niemand hat sie gesprochen, niemand hat von ihr gehört.“
„Und Orakel?“
„Ist auch verschwunden. Na ja, man soll ja nie die Hoffnung verlieren, auch dann nicht, wenn es keine Hoffnung mehr gibt. Übermorgen ist wieder Gothic-Disco, vielleicht treffe ich sie dann.“
„Vielleicht.“ Richard wurde wieder von seiner Erinnerung an den Kuss der Schönen gepackt. Energisch verdrängte er das Bild. Davon konnte er Theo unmöglich erzählen.
„Wenn du Glück hast, lernst du sie dann kennen“, versuchte er, seinen Freund aufzumuntern, allerdings ohne selbst so recht daran zu glauben. „Und sie dich.“
„Kann sein“, brummte Theo. „Quatsch. So wird es sein. Und wir werden zusammenfinden, sie und ich, ich weiß es. Sonst hält mich nichts mehr hier auf dieser Welt.“
„Theo …“, begann Richard, wieder einmal schockiert über die Ansichten seines Freundes. Er suchte nach Worten, doch Theo kam ihm zuvor.
„Weißt du“, flüsterte er traurig, „ich will gar keinen Sex mit ihr, ich will sie nur in den Armen halten. Ich will nur ein bisschen Zärtlichkeit.“
Richard dachte wieder an ihrer beider Traumfrau, daran, wie er und sie sich in seinem Fiebertraum geküsst hatten. Er wollte sehr wohl Sex mit ihr haben. Wie weltfremd war Theo eigentlich? Richard legte dem Freund mitfühlend seine Hand auf die Schulter. Doch der reagierte nicht.
„Warum versuchst du es nicht erst mal mit einer anderen?“, versuchte es Richard. „Übung macht den Meister.“
Theo bedachte Richard mit einem strafenden Blick. „Ich dachte, ich hätte dir deutlich gemacht, wie ich zu der Sache stehe“, stellte er klar, und Richard schwieg.
Theo betrachtete seinen Freund kritisch. „Du willst mich sicher überreden, dass ich zu einem deiner Treffen mit Tabea komme, um über diese komischen Forschungen von diesem komischen Fink zu reden“, mutmaßte er.
„Ja, und damit ich euch erzählen kann, was ich in Edirne erlebt habe. Heute Abend, bei mir in der WG?“
Theo blieb stumm.
„Komm schon“, drängte Richard, „das ist doch besser, als jeden Abend im Memphiskeller rumzuhängen und auf Phantome zu warten.“
„Da bin ich anderer Meinung.“
„Ich geh’ auch übermorgen mit dir in die Gothic-Disco.“
„Also gut“, brummte Theo schließlich. „Aber nur, weil du es bist. Und nur unter einer Bedingung …“
*
„Es hat drei Tage gedauert, bis ich auch nur das erste von Martin Finks Interviews in Lautschrift übertragen hatte“, erklärte Tabea. „Ich verstehe trotzdem kaum etwas. Deshalb habe ich mir die Arbeit bei den anderen Interviews gespart. Die Qualität der Bänder ist einfach zu schlecht.“
Sie starrte ein wenig frustriert in den mit rosa Schäfchenwolken geschmückten Himmel, der sich über dem abendlichen Würzburg spannte. Ein zarter, wenn auch ein wenig kühler Lufthauch strich über das Gelände hinter den Weinbergen; denn das war die Bedingung, die Theo gestellt hatte: dass sie ihre Zusammenkunft auf Theos Lieblingsplatz abhielten.
„Trotzdem nett von dir, dass du es versucht hast“, bedankte sich Richard und entfernte eine Ameise von seiner Hose.
„Ich konnte nur heraushören, dass Martin Fink immer wieder nach einem verschwundenen Neugeborenen gefragt hat“, setzte Tabea ihren Bericht fort. „Und nach diesem Breschoarde hat er auch immer wieder gefragt. Ich vermute, dass es sich bei diesem Namen um einen Ort handelt, wahrscheinlich ein kleines Dorf. Wird dann wohl mit ch geschrieben, also Brechoarde. Auch die altbekannten Wörter ‚Turm’ und ‚Hexe’ habe ich heraushören können, aber da habe ich den Zusammenhang nicht kapiert. Ich verstehe ja noch nicht einmal diesen seltsamen Dialekt so richtig.“
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