Auf Grund dieser Tatsachen ergibt sich für mich und meine Familie, die sich in nächster Zeit noch vergrößert, eine schwierige wirtschaftliche Lage die uns an den Rand des Existenzminimums führt, da meine Frau auf Grund des Familienwachstums, auf ihr bisheriges geringes Einkommen (180.-M) verzichten muß und wir uns nicht in der Lage sehen, als vierköpfige Familie mit einem bescheidenem Einkommen von 500.- Mark, einigermaßen normal zu existieren.
Aus den schon weiter oben angeführten Tatsachen und Gründen, wird mir eine berufliche Weiterentwicklung die mit einer Einkommensverbesserung verbunden ist, nicht möglich.
Zu diesem geringen Verdienst bin ich gekommen, weil es mir aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich ist, meine relativ gut bezahlte Tätigkeit weiter auszuüben.
All diese Gründe sowie die allgemeine Unzufriedenheit haben uns dazu bewogen diesen Antrag zu stellen und weil für uns in der Bundesrepublik Deutschland bessere Lebensbedingungen vorhanden sind.
Wir möchten noch darauf verweisen, daß wir mit diesem Schreiben von dem Recht der freien Meinungsäußerung gebrauch machen
gez. Fam. D.
Zur Familie D. gehörten zu diesem Zeitpunkt drei Personen: Manfred (28), Elke hochschwanger (27) und Madeleine (3). Sie bewohnten damals im Jahre 1975 zusammen mit Elkes Mutter ein kleines Einfamilienhaus am Rande Dresdens. Klotzsche hieß der Stadtteil, der weit im Norden der Elbestadt lag, eine organisch gewachsene Vorstadt, mit vielen Mietshäusern, aber auch Villen und Einfamilienhäusern am Rande der Dresdner Heide. Die Straßenbahnlinie Nummer sieben musste leicht aber stetig empor klettern, um diese ziemlich weit entlegene Gegend zu erreichen. Vorbei an hässlichen Russenkasernen und verdreckten Industrieanlagen der Jahrhundertwende schnurrte der neue Tatra-Straßenbahnzug ziemlich hurtig Klotzsche entgegen. An Wiesen und Feldern und dem legendären Truppenübungsplatz „Heller“ vorbei ratterte er fast mühelos bergan. Die Fahrgäste wurden immer weniger, die Straßen immer dunkler, doch plötzlich befand man sich wieder in einer eigenen Ortschaft mit Geschäften, Gaststätten und einem Waldbad, am Rand der Dresdner Heide. Und weiter ging es, noch ein paar Haltestellen, bis man dann irgendwann endlich aussteigen konnte, glücklich nach einer guten Stunde Fahrzeit - vom Zentrum Dresdens aus gerechnet. Lang und kalt war die Fahrt an diesen Abend für die Freunde der Familie D.
„Hallo, da seid ihr ja. Habt ihr euch hergefunden?“, begrüßte Manfred seine Freunde aus Dresden-Trachau, wie immer mit der gleichen albernen Frage, die so etwas wie eine Entschuldigung dafür sein sollte, dass Manfred und seine Frau so abseits wohnten.
„Ja, ja“, alberte Moni mit, „ihr müsst endlich mal vom Dorf wegziehen - in die schöne Innenstadt.“ Ihr Spott über die „schöne“ Innenstadt war nicht zu überhören. Denn schon lange ersehnten sie und ihr Mann sich auch so ein Randparadies.
Die drei liefen den etwas buckligen Plattenweg entlang, um die Ecke des Hauses herum und traten durch eine niedrige Tür in das Innere. Es war ein kleines Häuschen mit insgesamt fünf Zimmer, unten zwei, oben drei. Oben wohnte Elkes Mutter, die jedoch nur zwei Zimmer benutzte, sodass noch ein kleines Kinderzimmer heraussprang. Es reichte also für die dreiköpfige Familie gerade noch so aus; sie hatten zur Zeit ja nur ein Kind. Das Wohnzimmer der Familie D. war modern bis praktisch eingerichtet, ausgelegt für viele und häufige Besucher. An der Wand hing ein Plakat: „Haare“ - ein Jugendgottesdienst in der Weinbergskirche.
Das Zimmer war voll. Etwa acht Freunde waren schon da. Händeschütteln, „Hallo“ in die Runde, Moni und Peter waren die Letzten.
„Nanu Manfred, was ist denn hier los, gibst wohl ne Party?“, fragte Moni verwundert.
„Na setz dich nur erst mal hin, wirst schon sehen.“
„Mann, machst du’s spannend! Willst uns wohl wieder mal vorführen, dass du Westfernsehen ’reinkriegst.“
„Nö, da hätten wir heut kein Glück. Ist zurzeit total beschissener Empfang.“
Dresden wurde im Volksmund scherzhaft, oder manchmal auch boshaft, als das „Tal der Ahnungslosen“ bezeichnet, da es fast das einzige Gebiet auf dem Territorium der DDR war, wo man kein Westfernsehen empfangen konnte und dies sehr zum Leidwesen der Dresdner selbst. Nur in den höher gelegenen Gegenden war es mit unerhörtem Aufwand und bei günstigen Witterungsbedingungen möglich, etwas vom anderen Äther zu erhaschen. Ebenso stand es auch mit dem UKW-Empfang. Manfred gehörte zu jenen, die diesen unerhörten Aufwand betrieben, um für wenige Momente des Jahres in den ersehnten Genuss zu kommen. Es war tatsächlich für einen Dresdner ein unglaubliches, fast an Republikflucht grenzendes Ereignis, Westfernsehen zu erleben.
Nach einer ganzen Weile allgemeinen Geschwätzes trat Manfred in die Mitte und sagte: „Also passt mal auf Leute, ich will hier nicht lange quasseln, das ist nicht meine Art. Wir wollten euch bloß sagen, dass wir einen Ausreiseantrag gestellt haben ... Natürlich in die Bundesrepublik! Ich lese euch mal gleich den Text vor ...“
„W a s --??“
Erstaunen in der ganzen Runde.
Über die Verhältnisse in der DDR hatte man in diesem Kreis schon zur Genüge diskutiert. Allen war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Die Unzufriedenheit über die derzeitigen Zustände war bei allen groß. Jedoch war die Konsequenz daraus für jeden eine andere.
Während Manfred las, hörten die Freunde gespannt zu. Mac, ein smarter Junge mit dunkelblonden Haaren, saß mit übergeschlagenen Beinen da und stopfte sich seine Pfeife. Peter und Moni brannten sich jeder eine Zigarette an und reichten dann die Schachtel noch in die Runde. Volker und Martina, ein weiteres Ehepaar, die auch beide rauchten, nahmen das Angebot gern an. Damals rauchten noch fast alle und auch noch unverblümt in den Wohnräumen!
Als Manfred geendet hatte, trat Stille ein. Man schaute sich nicht an. Jeder hing seinen Gedanken nach. Mac, zwei Jahre älter als Manfred, ließ sich noch einmal den Antrag geben. Interessiert und nachdenklich beugte er sich über die zwei Schreibmaschinenseiten, an der dicken, warmen Tabakspfeife kauend. Zu der Ruhe ausstrahlenden Pfeife passten absolut nicht die Augenlider, die immer wieder nervös herunterklappten, so als verstünden sie den Text, ja die ganze Situation nicht. Seine ganze Haltung war unbeweglich, konzentriert.
„He, Mac, gib mir doch auch mal den Antrag“, rief Peter aus der Ecke gegenüber. Mac reichte ihm das Schreiben, ohne ihn anzuschauen, lächelte stattdessen kopfschüttelnd und etwas spitzbübisch Manfred an, der inzwischen auf dem Sessel neben ihm Platz genommen hatte. Manfred konnte mit diesem Blick nichts anfangen. Etwas verunsichert schaute er weg. Obwohl er stets so tat, als interessiere ihn die Meinung anderer nicht, wollte er jetzt doch wissen, was man von all dem hielt. Nicht zuletzt natürlich in der Hoffnung, Zuspruch zu ernten. Vielleicht hoffte er auch ein wenig auf Bewunderung. Er tat auch sonst vieles dafür. Vor allem bewunderten ihn Mädchen. Seine rassige Erscheinung, die durch seinen Oberlippenbart verstärkt wurde, sein athletischer Brustkorb, der durch enge Pullis und Hemden stets betont wurde, die Art des sich Kleidens, popig bis schlampig und sein lässiges, selbstbewusstes Auftreten, dies alles ließ die Mädchen auf ihn fliegen. So gesehen hatte es seine Frau nicht ganz einfach. Aber eine andere Art von Bewunderung kassierte er noch viel öfter, eine Bewunderung, die aus seiner Kaltschnäuzigkeit Vorgesetzten gegenüber resultierte. Nichts hasste er mehr als Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit. Und so lag es in seinem Wesen, dass er ständig mit Organen der Staatsmacht konfrontiert wurde und ihn die Nachteile, die er dabei zu spüren bekam, überhaupt nicht störten. Gerade seine Armeezeit verlief störrisch, ebenso sein übriges Leben. Die Bewunderung erntete er von seinen Leidensgenossen, manchmal aber auch von seinen Vorgesetzten, und empfand dabei tiefe Genugtuung.
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