Bis die zehn Minuten vorbei waren.
„Na gut, dann fangen wir eben ohne Otto an“, sagte Lothar von Pinnau und schlug seine Arbeitsmappe auf. Er wollte gerade Luft holen, um etwas zu sagen, da öffnete sich die Tür. Karola Busch, Lothars Vorzimmerdame, trat ein, fuchtelte wild mit den Armen und verzog hilflos das Gesicht.
„Wir wollen nicht gestört werden, das wissen Sie doch, Karola“, herrschte Lothar sie an. Gleichzeitig wurde sie von zwei Männern, einem kleinen und einem großen, die hinter ihr eintraten, sanft beiseitegeschoben.
„Ich weiß, wir kommen immer ungelegen, aber das ist nun einmal unser Beruf“, sagte der Lange. Dabei wedelte er mit einem Ausweis. „Ich bin Martin Kurtz, Hauptkommissar von der Kripo Hamburg.“
Der Mann war mindestens 1,95 Meter groß, dürr wie eine Bohnenstange und hieß Kurtz. Diese Tatsache drückte mächtig auf die Lachmuskeln, aber niemand traute sich.
Hauptkommissar Kurtz zeigte auf den kleinen Mann und sagte:
„Das ist mein Kollege Kommissar Groß.“
Nun gab es kein Halten mehr, schallendes Gelächter brach aus. Hauptkommissar Kurtz verzog keine Miene. Nur ein feines Lächeln huschte über sein Gesicht. Anscheinend war er an diese Reaktion gewöhnt. Dann sagte er:
„Ihr Kollege Otto Bergheim wurde heute Vormittag tot aufgefunden.“ Schlagartig erstarb das Gelächter. Eisiges Schweigen trat ein. Die Gesichter erschienen wie schockgefroren. Tanja schlug entsetzt beide Hände vors Gesicht und begann, leise zu schluchzen.
„Es tut uns leid, dass wir eine so schlechte Nachricht überbringen müssen. Aber wir benötigen dringend Ihre Hilfe“, meldete sich Kommissar Groß mit ernstem Gesicht zu Wort.
„Was ist passiert?“, fragte Lothar von Pinnau mit bebender Stimme. „Das wissen wir noch nicht. Die kriminaltechnische Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen“, erwiderte Hauptkommissar Kurtz.
„Und wie können wir Ihnen helfen?“, fragte Lothar von Pinnau.
„Nun, zunächst wüssten wir gern, ob Herr Bergheim Angehörige hat, die wir benachrichtigen können.“
„Soweit mir bekannt ist, lebte er allein. Er war verheiratet, aber seine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben“, sagte Lothar.
„Eine tragische Geschichte war das damals“, erinnerte er sich.
„Seine Eltern sind auch schon lange tot und von Geschwistern ist mir nichts bekannt“, fuhr er fort.
„Nun, in diesem Fall würden wir gern jemanden von Ihnen bitten, uns bei der Identifizierung zu helfen“, sagte Hauptkommissar Kurtz.
„Darum sollten Sie Frau Sommer bitten. Sie hat die meiste Zeit mit ihm zusammengearbeitet.“ Er deutete in Tanjas Richtung, die sich gerade die Tränen aus dem Gesicht tupfte.
„Sie können dazu mit ihr in mein Büro gehen. Wenn Sie weiter keine Fragen haben, würden wir jetzt gern unter uns sein“, sagte Lothar von Pinnau in schroffem Ton und sah den beiden Polizisten frostig ins Gesicht.
„Sicher, das verstehen wir. Danke für Ihre Hilfe. Falls uns noch Fragen einfallen sollten, werden wir Sie ins Polizeipräsidium bitten“, erwiderte Hauptkommissar Kurtz trocken.
Tanja Sommer hatte sich inzwischen zu den beiden Polizisten begeben.
„Kommen Sie“, sagte sie und führte die beiden ins Büro des Chefredakteurs. Dort befand sich neben dem Schreibtisch und den üblichen Büroutensilien eine kleine Sitzecke für Besprechungen.
„Setzen Sie sich“, sagte Tanja. Sie wartete, bis die beiden Platz genommen hatten, und setzte sich dann dazu. Während Kommissar Groß seinen Notizblock zückte, sagte Hauptkommissar Kurtz mit sanfter Stimme: „Mir ist aufgefallen, dass Ihnen der Tod des Kollegen Bergheim besonders nahegegangen ist. In welchem Verhältnis standen Sie zu ihm?“ Tanja Sommer nickte.
„Ja, das stimmt. Er war mein Mentor und darüber hinaus ein väterlicher Freund.“
„Könnten Sie das ein wenig näher beschreiben?“ Tanja wollte eben antworten, als ihr Smartphone brummte.
„Entschuldigen Sie“, sagte sie und schaute aufs Display. Was sie sah, brachte sie für einen Moment aus der Fassung. Schnell drückte sie die Aus-Taste.
„Was hatten Sie noch gefragt?“
„Ihr Verhältnis zu Herrn Bergheim …“
„Ach ja …“ Tanja überlegte.
„Wie soll ich es beschreiben? Sie kennen das sicher aus der Schule. Da gab es Lehrer, die hat man gehasst. Dann gab es welche, die konnte man ertragen. Und es gab den Lehrer oder die Lehrerin, die hat man geliebt. Die waren einfach cool. Da machte Lernen richtig Spaß und man freute sich auf die Unterrichtsstunde. So einer war Otto Bergheim.“
„Hmm“, machte Hauptkommissar Kurtz nachdenklich und Kommissar Groß kritzelte in seinem Notizblock.
„Wieso fragen Sie das überhaupt? Ist das wichtig, um seinen Mörder zu finden?“, fragte Tanja Sommer. Ihre Stimme klang zunehmend genervt.
Ruckartig hoben die beiden Polizisten den Kopf.
„Wie kommen Sie darauf, dass er ermordet wurde? Das hatten wir bisher nicht erwähnt.“ Die beiden blickten Tanja an, als hätten sie den Täter auf frischer Tat ertappt.
Auch wenn es Tanja in diesem Augenblick schwerfiel, musste sie lächeln, als sie sagte:
„Ich glaube, Sie sind sich nicht bewusst, wo Sie sich hier befinden …“
„Was soll das heißen?“, unterbrach Hauptkommissar Kurtz sie misstrauisch.
„Sie befinden sich hier in den Redaktionsräumen einer Zeitung. Unser Geschäft ist die Verbreitung von Nachrichten. Schnelligkeit gehört dazu.“ Noch während sie sprach, schob sie den beiden Polizisten das Smartphone über den Tisch.
„Schauen Sie sich das an. Es beantwortet Ihre Frage.“ Sichtlich widerwillig beugten sich die beiden über das Smartphone. „Bekannter Journalist erschossen von Schulkindern aufgefunden“, lasen sie. Das Bild zeigte den Tatort im Stadtpark mit dem berühmten Planetarium im Hintergrund. Die beiden schauten sich betroffen an. Hauptkommissar Kurtz fand als Erster seine Fassung wieder.
„Also gut, der Punkt geht an Sie. Das führt mich allerdings gleich zur nächsten Frage. Wann haben Sie Otto Bergheim zuletzt gesehen?“
„Wir haben gestern Abend bis heute früh bei mir zu Hause meinen Geburtstag und meine Festanstellung gefeiert. Die meisten Kollegen, die Sie vorhin im Besprechungsraum gesehen haben, haben bis heute Morgen mitgefeiert. Ich erinnere mich, dass Otto sich etwa gegen Mitternacht von mir verabschiedet hat. Und mir fällt ein, dass er sagte, er habe noch eine Verabredung. Was mir ein wenig seltsam erschien.“
„Und alle anderen sind später gegangen?“, hakte Kommissar Groß nach.
„Nein, einige auch früher. Der Chefredakteur Lothar von Pinnau zum Beispiel ist nur kurz geblieben. Unser Fotograf Felix Kramer und Jochen Schmitt haben sogar bis heute früh bei mir geschlafen. Die beiden hatten mächtig getankt und waren nicht mehr fahrtüchtig. Ich selbst bin erst gegen 3.00 Uhr ins Bett gekommen“, schilderte Tanja Sommer die vergangene Nacht.
„Vielen Dank für den ausführlichen Bericht“, sagte Hauptkommissar Kurtz.
„Da fällt mir noch etwas ein. Wissen Sie, ob Herr Bergheim Feinde hatte?“
Tanja blickte ihn entgeistert an. „Das muss er wohl. Oder was glauben Sie, weshalb er umgebracht wurde?“, fuhr sie auf. Hauptkommissar Kurtz war über ihre wütende Reaktion erschrocken, merkte dann aber, wie unsinnig seine Frage war.
„Entschuldigen Sie, die Frage war blöd gestellt. Ich meinte, ob Sie von Spannungen in seinem persönlichem Umfeld wissen?“
Immer noch verärgert antwortete Tanja schroff:
„Ich kenne das persönliche Umfeld von Herrn Bergheim nicht.“
Den beiden Polizisten war klar, dass jede weitere Frage nur Trotz hervorrufen würde. Also versuchten sie, mit einer Charmeoffensive die Stimmung aufzuhellen. In fürsorglichem Ton sagte Hauptkommissar Kurtz:
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