Nach dem Diplom hatte ich aushilfsweise für mehrere Firmen gearbeitet, um mir das Geld für den Sevilla-Aufenthalt zu verdienen, zuletzt im Lager eines Bekleidungsunternehmens; die reinste Knochenarbeit. Aber die Mühen waren nun, da ich mich auf dem Flug befand, vergessen. Mit Sevilla erfüllte ich mir einen Traum, der aus der Liebe zur spanischen Sprache und dem Land herrührte.
Der Bus, den ich vom Flughafen in Madrid nahm, brachte mich zu der Plaza de Colón. Von dort aus nahm ich ein Taxi zum Bahnhof, da ich von Madrid aus mit dem Zug nach Sevilla reisen würde.
Vor zwei Jahren, als ich begonnen hatte, spanisch zu lernen, hielt ich mich schon einmal für vier Wochen in Madrid auf. Ich erkannte die Gegend um die Calle de Serrano und die Plaza de Colón recht gut wieder, da ich hier in unmittelbarer Nähe gewohnt hatte. Schon damals war ich von Madrid begeistert: Der Sommer in der Stadt, die breiten avenidas und die vielen historischen Sehenswürdigkeiten. Vier Wochen waren natürlich zu kurz, um die Stadt genauer zu erkunden. Aber ich hatte mein Madrid entdeckt, indem ich bestimmte Orte regelmäßig aufsuchte. Auf diese Art und Weise fühlte ich mich in der Fremde heimischer. Meinen Milchkaffee hatte ich nach dem Unterricht immer in einer Bar bei mir um die Ecke getrunken, und die Hausaufgaben hatte ich auf den Stufen des Denkmals Alfonso XII im Retiropark erledigt. Ich war gespannt darauf, welche Plätze in Sevilla auf mich warteten, um von mir entdeckt zu werden.
Es war abends gegen sieben Uhr, als ich den Atocha-Bahnhof betrat. Bis zur Abfahrt des Zuges blieben mir noch zwei Stunden. Ich hätte auch einen Direktflug von Frankfurt nach Sevilla buchen können, aber ich flog nur bis Madrid, einzig um in den Genuß einer Zugfahrt mit dem neuen Hochgeschwindigkeitszug AVE, dem Pendant zum französischen TGV, zu kommen.
Ich ging hinaus auf den Bahnsteig und schaute mir diese schönen Expreßzüge schon einmal an. Ich streichelte vorsichtig die blauweiße Außenhaut. Ich liebte Züge. Seit meiner frühesten Kindheit übten Züge eine besondere Faszination auf mich aus. Ein Besuch bei meinen Großeltern, die in Süddeutschland gelebt hatten, war für mich die reinste Freude gewesen. Hinter dem Garten verlief eine Eisenbahnstrecke. Die erste Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, war, zum Bahnhof zu laufen, um den Fahrplan der Züge zu notieren. Immer, wenn ein Zug vorbeigerauscht ist, lief ich zum Bahndamm hoch und hatte ihm sehnsüchtig nachgeschaut. Ich wollte keinen Zug verpassen. Ich war richtig vernarrt in die Eisenbahn, weil sie ein Fortbewegungsmittel war. Züge symbolisierten für mich das Wegfahren. In meinen Phantasiereisen, die ich mit ihnen unternommen hatte, versuchte ich, dem Gebrüll und dem Jähzorn meines Vaters zu entkommen. Seit jeher war ich ein Reisender gewesen, auf der Suche nach einem Ort, an dem es Liebe und Geborgenheit gab.
Kurz vor Mitternacht erreichte der AVE Sevilla. Dieser Zug fuhr eigentlich nicht ein, sondern er schwebte mit kaum spürbarer Verzögerung ein, ganz dem Anlaß angemessen. Fast andächtig betrat ich den Bahnsteig und als ich die großen Lettern Estación de Santa Justa erblickte, überkam mich ein seliges Gefühl. Endlich angekommen!
Wenig später setzte mich das Taxi vor einem alten sevillanischen Bürgerhaus, der schuleigenen Residenz, in der Calle Sor Angela de la Cruz ab. Nachdem ich die Formalitäten erledigt hatte, half mir der Nachtportier, mein schweres Gepäck die steilen Stufen heraufzuwuchten. Meine Unterkunft befand sich als einziges Zimmer neben der Küche auf der Dachterrasse, die anderen lagen in den beiden Etagen darunter. Das Zimmer war einfach ausgestattet und verfügte über eine eigene Dusche und Toilette, einen Luxus, den ich mir für den längeren Aufenthalt gönnte. Erschöpft von der Reise und der Gepäckschlepperei, legte ich mich schlafen.
Ostermontag, 4. April 1994
Etwas verschlafen schälte ich mich am frühen Morgen aus dem Bett. Der Gedanke, daß mein Unterricht an einem Feiertag begann, wo sie zu Hause wahrscheinlich noch in ihren Federn lagen, erfüllte mich nicht gerade mit Frohsinn. In Spanien war Ostermontag ein regulärer Werktag. Ich trat auf die riesige Dachterrasse hinaus und schaute mich um. Die Sonne stand eine Handbreit über dem Horizont. Es versprach ein sonniger Tag zu werden. Bereits um diese Uhrzeit war es wärmer als bei meiner Abreise aus Deutschland.
Von der Terrasse aus genoß ich einen freien Blick auf die Stadt. Über einem Gewimmel aus Fernsehantennen thronte der fast einhundert Meter hohe Turm der Giralda, einst maurisches Minarett und nun Glockenturm der Kathedrale. Nach Westen konnte ich den Panoramaturm des ehemaligen Expogeländes erkennen.
Da ich noch keine Lebensmittel eingekauft hatte, beschloß ich, früher von der Residenz wegzugehen und in einer Bar zu frühstücken. Der Unterricht sollte erst um halb zehn beginnen. Den Weg fand ich spielend, da ich ihn schon zuvor im Geiste mit Hilfe des von der Schule zugesandten Informationsmaterials zurückgelegt hatte. Die Residenz befand sich im Stadtteil Centro und die Schule in einer Seitenstraße der Alameda, der einstigen Flaniermeile Sevillas. Das bedeutete einen etwa zehnminütigen Fußmarsch.
Daß Sevilla die schönste Stadt Spaniens sein sollte, konnte man von dieser Ecke nicht unbedingt behaupten. Die Häuser der Umgebung wirkten alt und teilweise baufällig. An einigen bröckelte der Putz von den Wänden. Den Charme vergangener Zeiten konnte man nur erahnen. Ich kreuzte die Alameda und fand direkt an der Einbiegung, an der sich unsere Schule befand, eine kleine Bar. Beim Betreten drang mir der Duft von Milchkaffee und Schinken in die Nase. Die Luft war geschwängert vom Rauch starker Ducados-Zigaretten. Die Kaffeemaschine entfachte einen Höllenlärm beim Aufschäumen der Milch. In einer Ecke lief der Fernseher. Draußen tranken Sevillanos auf dem Weg zur Arbeit ihren cortado im Stehen. Der Lärm in der Bar, die Gerüche und das ganze Szenario drumherum vermittelten mir erst den Eindruck, wirklich in Spanien angekommen zu sein. Ich genoß meinen Milchkaffee bevor ich mich auf den Weg zum Unterricht machte.
Die Schule befand sich ebenfalls in einem schön renovierten Bürgerhaus, ähnlich der Residenz. Zunächst mußte ich die Formalitäten erledigen, bevor mir ein Klassenraum zugewiesen wurde. Die erste Unterrichtsstunde galt dem gegenseitigen Kennenlernen. Zu meiner Überraschung bestand der Kurs lediglich aus vier Schülern: James, einem jungen Texaner, und Maurice, einem Franzosen, beide hatten die Schule bereits seit einigen Wochen besucht, dann gab es noch Philippe, einen aus Genf stammenden Schweizer, und mich. Juan, frischgebackener Absolvent der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Sevilla, war verantwortlich, uns in der Landessprache Mikro- und Makroökonomie schmackhaft zu machen. Er erläuterte uns den Aufbau und die Ziele des Unterrichts. Als wir uns dann an die Bearbeitung eines Textes aus dem Wirtschaftsteil der Zeitung El País machten, beschlichen mich erste Zweifel, ob ich die Prüfung bestehen könnte. Für diesen Kurs waren Oberstufenkenntnisse der spanischen Sprache Voraussetzung. Bestenfalls reichte mein Wissen aber für die Mittelstufe aus. Ich galt als sehr sprachbegabt, was das Imitieren der Aussprache betraf, mußte mir aber das Vokabular und die Grammatik mühsam aneignen. Mit dem exzessiven Gebrauch des Konjunktivs hatte ich so meine Mühen, und es gab noch andere grammatikalische Raffinessen, die meine ganze Aufmerksamkeit erfordern würden. Mein Eindruck nach dem ersten Schultag war, daß meine Klassenkameraden über ein wesentlich höheres Niveau verfügten, da sie sich gewandter ausdrücken konnten.
Als ich vom Einkauf zurück in die Residenz kam, herrschte auf der Dachterrasse und in der Küche reges Treiben. Gruppen von Schülern hockten zusammen oder kochten gemeinsam ihr Mittagessen.
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