„Der Kerl hat sich regelrecht verkleidet, damit ihn später niemand identifizieren kann“, war für Max der Fall sofort klar. „Aber ein telemetrischer Abgleich lässt sich durch einen Schnauzbart nicht betrügen. Das Problem ist nur, dass die Zahl der telemetrischen Merkmale, die standardmäßig von dem Programm verglichen werden, sich durch die Maskierung verringert hat. Der exakte Abstand der Augen zueinander, der Abstand zwischen Lippen und Nase und noch ein paar andere Merkmale können wir anhand dieser Bilder nicht vergleichen. Zehn bis zwölf dieser Merkmale sind notwendig, um einen Menschen eindeutig zu identifizieren.“
„Versuch es einfach, Max!“, forderte Roy.
Und ich ergänzte: „Was wir brauchen ist auch nicht unbedingt eine gerichtsverwertbare Identifizierung. Es reicht uns schon Hinweis, wo wir nach dem Kerl suchen könnten.“
Max kopierte aus dem aufgezeichneten Videomaterial ein Standbild heraus, von dem er glaubte, dass es sich besonders gut zur telemetrischen Vermessung eignete. Natürlich blieben im Wesentlichen die Merkmale des Kinnbereichs übrig. Selbstverständlich war auch ein Abgleich von Körpermerkmalen möglich, etwa das Verhältnis der Größe zur Schulterbreite, die Länge von Armen und Beinen, das Verhältnis des Unterarms zum Oberarm und so weiter. Das Problem war nur, dass bei einer erkennungsdienstlichen Behandlung in der Regel nur Fotos angefertigt wurden, die Kopf und Oberkörper aus verschiedenen Perspektiven zeigten, sodass Max sich auf die Kinnpartie beschränkte.
Das Programm lief. „Ihr solltet nicht zu sehr enttäuscht sein“, meinte er vorbeugend. „Leichter wäre es, wenn wir einen Verdächtigen hätten, den wir ausschließen wollten.“
„Den haben wir doch“, sagte ich. „Ich meine diesen Blitz.“
„Ein Mann von dem niemand mit Sicherheit sagen, wer dahinter steckt?“, fragte Max grinsend.
Schließlich hatten wir das Ergebnis.
Insgesamt 507 Personen aus unseren Archiven hatten ein Kinn, das nicht im Widerspruch zu den abgemessenen Merkmalen stand. Max suchte unter den Namen und rief plötzlich: „Volltreffer!“
„Wovon sprichst du?“, fragte ich.
„Unter diesen 507 Namen ist auch Arvid Lennart Alexander, ehemaliger Leutnant bei den Kommando Spezialkräften, gesucht wegen Fahnenflucht und die Person, die höchstwahrscheinlich mit ‚Blitz’ identisch ist.“
„Dann hat dieser Blitz irgendwie davon erfahren, dass Käding Dinge über ihn erzählt, die er nicht verbreitet haben will und ihn deswegen umgebracht?“, fragte Roy.
„Moment!“, warnte Max. „Wir wissen nicht definitiv, dass der Mann auf der Videoaufnahme Blitz ist. Wir wissen nur, dass Blitz einer von 507 Personen ist, die Kädings Mörder sein könnten. Ich betone das Wort könnten!“
„An Zufälle glaube ich aber nun mal nicht“, meinte ich.
„Ich auch nicht“, sagte Max. „Sie kommen aber vor!“
„Kannst du nicht schlafen?“
Vic Noureddine stand am Fenster und blickte hinaus in die Gartenanlagen, die seine wie eine Festung bewachte Villa umgaben.
Es war drei Uhr morgens.
Kimberley erhob sich aus dem breiten Wasserbett. Sie war nackt. Über einer Stuhllehne hing ein Kimono, nach dem sie griff. Während sie sich die fließende Seide um den Körper hüllte, fiel ihr das weiße Pulver auf, das auf dem Nachttisch in kleine Häufchen aufgeteilt worden war. Daneben lag ein Nasenröhrchen.
Vic Noureddine hatte sich nie im Drogenhandel betätigt. Die alteingesessene Konkurrenz war zu stark und sich gegen die Drogensyndikate durchsetzen zu wollen war für Newcomer so gut wie aussichtslos. Die einzige Möglichkeit war, von ganz unten zu beginnen. Aber Vic Noureddine war nun einmal jemand, der nichts so sehr hasste, wie der Vasall eines Anderen zu sein. Er hatte immer schon sein eigener Herr sein wollen und ließ sich von niemandem reinreden.
Als Vic vor zehn Jahren in der Müllbranche anfing, war die noch jung gewesen. Der Aufstieg dementsprechend leicht und die Gewinne so gigantisch, dass jeder Kokaingroßdealer dagegen wie eine arme Kirchenmaus aussah.
Auch wenn seine Geschäfte mit Drogen nichts zu tun hatten, privat genehmigte sich Vic immer wieder mal eine Nase voll. Natürlich nur Stoff von erstklassiger Qualität.
Kimberley trat neben ihn, schmiegte sich an ihn.
„Du kennst diesen Blitz, von dem die Beamte sprachen.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, die in diesem Augenblick über Kimberleys Lippen kam.
„Ich habe ihn sogar selbst schon einmal engagiert. Er ist einfach der Beste seines Fachs, und es ist kein Wunder, dass man ihn bisher nicht gefunden hat.“
„Und wer steckt dahinter und will dich tot sehen? Darüber denkst du doch schon die ganze Zeit nach, oder?“
Vic sah in ihre blauen Augen. Manchmal war es beängstigend, wie gut sie seine Gedanken zu lesen vermochte. Aber diesmal lag sie etwas daneben.
„Ich weiß, wer dahinter steckt!“, sagte er und ballte dabei unwillkürlich die Hände zu Fäusten. „Darüber brauche ich gar nicht erst nachzudenken! Die Frage, die mich beschäftigt, ist eine ganz andere: Wie kann ich diese Schweine unter die Erde bringen, bevor sie dasselbe mit mir tun.“
„Du solltest nicht übereilt handeln.“
„Wahrscheinlich habe ich viel zu lange gezögert. Ich hätte Timothy Kronewitteck umbringen sollen, als er noch ein kleiner Fisch im Karpfenteich war. Aber so ist der Lauf der Welt. Menschlichkeit rächt sich früher oder später.“
Die junge Frau atmete tief durch.
Ihr Gesicht musterte Vic eine ganze Weile, ehe sie ihn schließlich fragte: „Bist du je mit diese geheimnisvollen Blitz persönlich zusammengetroffen?“
„Wieso fragst du mir eigentlich Löcher in den Bauch, Baby?“, knurrte er ärgerlich. Er seufzte hörbar. „Auf jeden Fall muss etwas geschehen. Ich will, dass allen Leuten, die Käding kannten, mal so richtig auf den Zahn gefühlt wird. Dieser verfluchte Buchmacher muss doch eine Quelle für seine Informationen haben.“
„Und wenn er einfach nur Wind machen wollte?“
Auch dieser Gedanke war Vic schon gekommen. Er dachte noch einen Moment darüber nach, schüttelte schließlich aber den Kopf. „Dafür scheint mir das Risiko einfach zu hoch“, sagte er.
Kimberly ließ ihn los. Sie schlenderte durch das Zimmer, setzte sich schließlich auf das Bett und machte eine Lampe an. Dann nahm sie Vics Blasrohr, das zwischen den Kokain-Häufchen auf dem Nachttisch lag und schnupfte eine ziemlich große Dose. Anders, so dachte Kimberley, ließ sich der Tag nicht überstehen.
„An deiner Stelle würde ich mir über ganz andere Dinge Gedanken machen, Vic“, meinte sie danach, ließ sich auf das Wasserbett fallen, dessen Inhalt daraufhin in merkliche Schwingungen geriet, und schloss die Augen.
„Du hast doch was Bestimmtes mit deiner Bemerkung im Sinn“, stellte Vic stirnrunzelnd fest.
„Ich denke da zum Beispiel an die Häuser mit dem giftigen Inhalt, auf die die Behörden in letzter Zeit so verdächtig oft gestoßen sind.“
„Talani ist ein Narr gewesen“, murmelte Vic. „Ein so gottverdammter Narr...“
Mehr hatte Vic Noureddine dazu nicht zu sagen.
Am nächsten Morgen fuhren Roy und ich zum Albert Schweizer Krankenhaus, um die beiden Jungen zu vernehmen, die sich in das Haus in der Brasewinkel Straße vorgewagt hatten und dabei vergiftet worden waren.
Inzwischen waren beide Jungen außer Lebensgefahr. Die Ärzte hielten sie immerhin für vernehmungsfähig. Aus rechtlichen Gründen musste wenigstens ein Elternteil bei den Vernehmungen zugegen sein, woran wir uns auch hielten.
Beide Jungen lagen auf demselben Zimmer im Albert Schweizer Krankenhaus. Paul Oldendorff war wach und las in der neuesten Ausgabe von SPIDER-MAN. Marvin-Julian Pellemeier schlief und schien von den Entgiftungsmaßnahmen noch sehr geschwächt zu sein.
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