Direkte Zuwendung von unserer Mutter wurde nur jeweils dem Nesthäkchen zuteil, und das war die Angela, die wegen ihres niedlichen, hellblonden Lockenköpfchens viele Vorteile bei unseren Eltern genoss. Unsere Mutter war sehr stolz darauf, so ein hübsches Kind zu haben. Angela entsprach genau dem Typ des nordischen Menschen, der damals vom Regime bevorzugt wurde. Wir anderen Geschwister litten darunter. Auch war Mutter die tägliche Ordnung wichtiger als die Belange der Kinder. Wenn wir in Schwierigkeiten oder in Nöten waren, wurde uns kaum zugehört. Das schien nicht wichtig zu sein.
Kapitel 03 Der gefürchtete Schulweg
Den Schulweg gingen Freddie und ich sehr oft gemeinsam, denn der Unterricht begann für uns meistens um acht Uhr morgens. Bis auf die Zeit im Winter, hatten wir fast täglich Probleme am Bahnübergang. Der Bahnwärter hielt eine Hühnerschar mit einem sehr aggressiven Hahn. Fast jedes Mal, wenn wir dort vorbei gingen, regte sich der Hahn mit viel Geschrei fürchterlich auf. Er kam von der tiefer gelegenen Kuhweide, die durch einen Graben mit viel Gebüsch zur Straße abgegrenzt war, auf den Gehweg gerast und griff uns an. Er hackte auf uns ein und kratzte uns. Es war oft so schlimm, dass wir unseren Tornister von der Schulter nehmen mussten und diesen an den Riemen haltend gegen das Tier schleuderten, bis es endlich von uns abließ. Wenn wir uns zu Hause darüber beklagten, kamen meine Eltern nicht auf die Idee, irgend etwas dagegen zu unternehmen.
Der Hahn war aber für mich nicht die einzige Hürde, um zur Schule zu kommen. Direkt in Groden stand ein altes, mit Stroh gedecktes Bauernhaus. Vor diesem Haus saß bei gutem Wetter eine Frau mit Dreiecksumhang. Sie sah aus wie eine alte Hexe. Wenn sie mich sah, rief sie immer, ich solle doch kommen und lockte mich, wie es mir schien, mit ausgestrecktem Arm und gekrümmtem Zeigefinger zu sich.
Das machte mir Angst, und durch die Geschichten aus Grimms Märchen gewarnt, rannte ich jedes Mal mit heftig klopfendem Herzen weg. Vielleicht brauchte die Frau Hilfe, aber ich war sehr misstrauisch und dachte nicht an so etwas. Erst in der Schule fühlte ich mich wieder sicher. Später machte ich es so, dass ich von vornherein schnell an dem Haus vorbei rannte, um der Alten keine Gelegenheit zu geben, mich zu rufen.
Auf dem Schulweg konnte man den Elbdeich aus der Nähe sehen. Eines Tages gegen Mittag, als ich nach Hause ging, sah ich ein gewaltiges Schiff auf der Elbe Richtung Hamburg fahren, dessen Aufbauten und riesige Schornsteine hoch über den Deich hinweg ragten. Ich staunte sehr, denn so ein schönes großes Schiff hatte ich noch nie gesehen. Es war die MS Bremen.
Ach, was war das für ein Ereignis!
Die MS Bremen war das berühmte Flaggschiff des Norddeutschen Lloyd, dass das Blaue Band gewonnen hatte. Bei ihrer letzten Atlantiküberquerung Richtung Deutschland gleich nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, hatte sie zur Sicherheit zunächst Murmansk in Russland angesteuert, um später den Heimathafen in Deutschland anzulaufen.
Kinderkrankheiten meldeten sich an, zuerst die Windpocken, dann die Masern und Röteln. Freddie bekam auch noch Mumps. Es ging Schlag auf Schlag. Bei ihm bildete sich in der rechten Leiste außerdem eine riesige Eiterbeule. Der Arzt erklärte uns, dass sie die Folge davon sei, dass Freddie sich einmal das Knie aufgeschlagen hatte und Schmutz in die Wunde gekommen war. Der Doktor schnitt die Beule mit einem Skalpell auf, und es kam unheimlich viel Eiter heraus. Wir alle sahen zu, zitterten mit ihm, und hofften, dass seine Schmerzen erträglich blieben.
Kurz darauf wurde es für uns alle noch schlimmer. Es grassierte eine schmerzhafte Furunkulose in der Familie, die uns sehr quälte. Es dauerte lange, bis so ein Furunkel reif war und aufbrach. Fast genauso lange dauerte es, bis er endgültig abheilt war.
Mutter hatte alle Hände voll zu tun, uns zu versorgen und zu verbinden. Und dann wurde ich schwer krank. Ich bekam Gelbsucht und die Röteln. Alle anderen Kinder unserer Familie wurden eilig nach Wesermünde zu Großvater und Anna evakuiert.
Ich wurde von Frau Kamps, der liebenswerten Hauswirtin, versorgt, die mir jeden Tag aus dem Buch Heidi vorlas, damit ich Ablenkung hatte. Nach einiger Zeit wurde ich gegen die anderen Kinder ausgetauscht und zu Opa gebracht, und die Geschwister kehrten nach Cuxhaven-Groden zurück. Nun hatte Anna das Regiment über mich und versorgte mich sehr gewissenhaft. Ich hatte laufend erhöhte Temperatur. Wenn Dr. Baumgarten, Opas Hausarzt, mich untersucht hatte, wiegte er nur den Kopf mit seinem freundlichen Pferdegesicht und den großen Zähnen hin und her und sagte:
„Das Mädchen braucht viel Ruhe und muss gut essen, damit sich die Krankheit bessert."
Aber die Zeit verging sehr langsam. Nur einmal wurde es interessant. Es wurde ein Wagen bestellt, und Anna und Großvater brachten mich zu einem Spezialarzt zum Röntgen. Sein Haus stand genau hinter der Großen Kirche in der Prager Straße in Wesermünde. Ich wusste natürlich nicht, was Röntgen war und hatte verständlicherweise große Angst davor. Der riesige Röntgenapparat war mir unheimlich, aber der Doktor, äußerst freundlich und verständnisvoll, erklärte mir, was er tun würde. Er beruhigte mich damit, dass es auf kein Fall weh tun würde. Er machte Röntgenbilder von meinem Oberkörper. Warum das alles mit mir gemacht wurde, hat mir nie jemand erklärt. Ich erfuhr auch niemals, warum ich von der Familie getrennt bei Opa und Anna leben musste. Dauernd sollte ich schrecklich viele fette Sachen essen, die ich gar nicht gerne mochte.
Das Allerschlimmste aber für mich war wirklich, dass ich ohne meine Geschwister sehr einsam war. Tagsüber musste ich in der großen Stube auf der Couch liegen und war allein. Ich durfte nicht einmal mehr auf dem langen Flur mit dem geriffelten Gummiläufer auf einem der Handstöcke reiten, was ich früher so gerne getan hatte. Nachts schlief ich in Großvaters Schlafzimmer in dem sonst leeren Bett neben ihm.
Kapitel 05 Die Progromnacht
Eines Morgens wurde ich durch grässliches Geschrei und Geklirre, das von der Straße heraufschallte, aus dem Schlaf gerissen. Es roch abscheulich nach Feuer und Rauch.
Da kam auch schon Anna ins Schlafzimmer gestürzt und beruhigte mich, weil ich vor Angst zu weinen begonnen hatte und am ganzen Leib zitterte. Auf meine Fragen bekam ich nur die ausweichende Antwort:
„Ich weiß auch nicht, was da draußen los ist und warum das passiert."
Niemand hat jemals versucht, mir dazu etwas zu erklären. Man hüllte sich einfach in Schweigen.
Erst sehr viel später nach dem Krieg wurde mir klar, dass es sich um den Morgen der Reichskristallnacht, den 9. November 1938, gehandelt hatte. An dem Tag waren viele unschuldige Menschen jüdischen Glaubens ums Leben gekommen.
Als ich einen Tag darauf mit Anna ausgehen durfte um etwas zu besorgen, sah ich, dass sich die Stadt in einem fürchterlichen Zustand befand. Fenster waren kaputt geschlagen, Häuser und Geschäfte ausgebrannt und teilweise ganz zerstört. Ich sah das Kaufhaus Merkur an der Ecke der Georgstraße und Grashoffstraße in Trümmern liegen. Überall lagen Glassplitter herum. An der Ecke Georgstraße und An der Mühle war das kleine weißgekalkte, mit Stroh gedeckte Bauernhaus, das direkt an der Straße lag, völlig ausgebrannt. Die Leute erzählten, dass man den alten Besitzer totgeschlagen hatte.
Die Menschen hatten bereits 1938 schon Angst um ihr eigenes Leben und das ihrer Familien. Die Zeit war unsicher und niemand wagte, irgendetwas über die Vorfälle des 9. November zu sagen. Die NSDAP ging rigoros gegen jeden vor, der darüber sprach, weil es als Volksverhetzung galt. So wurde es bezeichnet und durch Schweigen schützte man sich vor unangenehmen Überraschungen. Das war richtig und wichtig für die Menschen, sich so zu verhalten, denn nicht jeder war mit dem Regime einverstanden. Niemand konnte vor böswilligen Denunziationen sicher sein, die Partei hatte überall Ohren.
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