Auch wenn die Menschen, deren Geschichten ich in «21 Shades of Shame» erzähle, nicht Präsidenten oder Praktikantinnen sind, so ergeht es vielen sehr ähnlich. Die Angst und die vermeintliche Schande ist meist auch in ihrem Leben ein starker Hinderungsgrund sich zu «outen» (engl. ein Mensch offenbart seine vermeintliche Schande gegenüber der Gesellschaft, um sich aus seinem Gedankengefängnis zu befreien).
Habe ich deine Neugier geweckt? Dann werde ich mich mit dir zusammen zu meinen aussergewöhnlichen und doch alltäglichen Geschichten aufmachen. Sie sind real, lediglich die Namen und Orte sind frei erfunden, um die Personen, welche mir ihre Erfahrungen anvertraut haben, zu schützen.
Vielleicht hilft dir die eine oder andere Geschichte, um eigene Irrwege und falschen Hoffnungen zu erkennen. Darüber zu sprechen oder vielleicht auch Hilfe zu suchen. Das Leben ist eine Kette von Ereignissen und jedem Ereignis liegt eine Ursache zugrunde. Die Ursache werde ich jeweils am Ende der Geschichte noch etwas ausleuchten und die Dinge beim Namen nennen. Ich werde manchmal auch etwas tiefer Graben, dafür wird die Geschichte umso intensiver, spannender und informativer.
Bist du bereit? Dann komm mit mir, auf die Reise ins 21. Jahrhundert und teile mit mir die «21 Shades of Shame».
… Ein Dutzend Frauen später traf Marc eine für ihn besondere Frau. Sie war etwas älter als er und nicht so schnell bereit, sich von ihm abschleppen zu lassen. Das reizte Marc. Sie weckte den Jäger in ihm und traf damit voll ins Schwarze.
1 Virtuelles An- und Ausziehen, Marc mag es weich
Ich öffne meine E-Mail. Dick, fett und in Grossbuchstaben steht da: «GEILE HAUSFRAUEN warten in deiner Nähe auf dich!» Yeah, sag ich mir und frage mich, welche von meinen Nachbarinnen wohl gemeint ist? Ich auch!? Auf keinen Fall, auch wenn ich im Moment Single bin. Wer immer sich die Werbung so viel kosten lässt, der muss es ja wissen – oder etwa nicht? Und weiter gehts mit den Mails: Clara bedankt sich für die nette Unterhaltung und einige Onlineshops schicken wieder mal ein Update der neuesten «must haves» (engl. muss man haben) ihres Shops. Onlinezeitschriften lassen mich wissen, dass sie wissen, wie das mit dem besseren Orgasmus und Sex geht – und ich frage mich erneut: «Sind wirklich so viele geile Frauen unterwegs? Oder ist das wieder so eine Werbefalle, auf welche vorzugsweise Männer immer wieder herein fallen, und sich erwartungsvoll, vor allem kopflos, hineinstürzen?» Ich hänge noch meinen Gedanken nach, als ein Chatfenster auf meinem Bildschirm aufgeht. Marc fragt mich, wie es mir heute Morgen geht:
Marc:Na wie gehts dir heute Morgen, schon Kaffee gehabt?
Ich:Ja, alles so weit gut und meine Mail bereits gelesen.
Marc:Was machst du heute Abend, schon was vor?
Ich:Nicht direkt, aber ich denke, ich werde mal früher ins Bett gehen.
Marc:Alleine?
Ich:Ja, warum?
Marc:Dachte mir, wir könnten uns treffen… magst du weiche Sachen?
Ich:Was für weiche Sachen meinst du?
Marc:Na, weiche Kleider, Pullis und so.
Ich:Ja – schon, aber warum interessiert dich das?
Marc:Nun, wir könnten doch «Anziehen» spielen – magst du lange Mäntel, schwarz und tailliert?
Ich:Ja – mag ich, aber wie stellst du dir das «Anziehen» vor?
Marc:Wir können das «virtuell» machen, so wie jetzt und dann vielleicht ...
Ich:Aha – und was «vielleicht»?
Marc:Na ja, da gibt es auch noch ganz weiche Unterwäsche – magst du rote Unterwäsche? Vielleicht mit schwarzen Spitzen?
Ich:Ja, mag ich, aber irgendwie ist das schräg, ein Mann, der mit mir online An- und Ausziehen spielen will? Was hast du davon?
Marc:Ich mag es einfach, mit Frauen so zu kommunizieren, und wenn sie das auch mag, dann können wir ja noch ein wenig über sonstige weiche Sachen sprechen.
Ich:Nö – ich steh nicht eigentlich darauf, aber ich hab eine Frage …
Marc:Ja?
Ich:Ich hab eben gelesen, dass es anscheinend extrem viele sogenannt geile Hausfrauen geben muss – was hältst du davon? Stimmt das so und kannst du das bestätigen?
Marc:Also, ich treffe solche Frauen ganz selten persönlich. Online scheint es jedoch überraschend viele Frauen zu geben, mit denen man über Sex und so sprechen kann – so wie mit dir.
Ich:Ja, kann man, aber ich wundere mich und glaube das nicht wirklich. Das sind ja oft nur Schnellschüsse, und davon hat Frau meistens nicht viel.
Marc:Schnellschüsse?
Ich:Ja, Männer, die nach einem ONS (Abk. One-Night-Stand, engl. nur für einmal Sex mit der gleichen Person) oder Online-Geilmacher-Chats suchen, und Frauen die denken, es könnte mehr geben, wenn der Typ passt. Männer, die denken, dass jede Frau nur auf Sex aus ist und «undersexed» (engl. sexuell ausgehungert), wenn sie die Vierzig überschritten hat. Schnellschüsse, schnelle Nummern, denn entweder sind die Männer zu jung und unerfahren oder die Frauen halten hin und sind danach enttäuscht.
Marc:Kann sein – wie siehst du das jetzt mit dem Anziehen und weichen Sachen? Heute Abend, online?
Ich:Mal sehen, wenn ich online bin und es gerade passt – vielleicht ...
Marc:Ok, dann mal bis zum nächsten Mal – Kiss.
Ich:Danke, ja, und einen schönen Tag noch.
Marc:Dir auch.
Ich lese den Chat nochmal durch und frag mich, was nur aus uns geworden ist? Da fragt mich ein erwachsener 48-jähriger Mann, ob ich mit ihm online «Anziehen und Ausziehen» spiele und ob ich weiche Sachen liebe. Was für eine Geschichte steckt wohl hinter Marc? Und was ist mit den «immer geilen Hausfrauen»? Sind die auch hier online oder gibt es die nur bei den Webseiten, welche die geilen Frauen als sogenannte «Mitglieder» angeben, diese aber in Wirklichkeit gar nicht existieren? Willkommen im Zeitalter der elektronischen, virtuellen Welten. Ich hatte noch einige tiefergehende Chats mit Marc. Es interessierte mich herauszufinden, wie er auf diese Masche kam.
Marc entstammt einer Familie aus dem Mittelstand. Vater mittleres Kader, Mutter Hausfrau und zwei Schwestern, jünger als Marc. Der Vater war oft unterwegs und gemäss seiner Mutter, mindestens zur Hälfte der Zeit mit anderen Frauen beschäftigt. Für Marc war das eigentlich kein Problem, bis seine Schwestern in die Pubertät kamen. Besonders die ältere der beiden schien auf einem Dauertrip zu sein. Immer wenn sie einen Mann sah, ging ihr Blick automatisch zuerst zu dessen Hosenschlitz. Das nervte Marc und er fand es besonders unangenehm, wenn er Freunde mit nach Hause nahm. Dann fielen ihre Blicke richtiggehend auf und Marc wünschte sich öfters, unsichtbar zu sein. Er empfand seine Schwester zu dieser Zeit als reine Plage.
Nach seinem Lehrabschluss suchte sich Marc eine eigene Wohnung. Weg von zu Hause und rein in ein neues Leben, war angesagt. Die erste Wohnung war nicht sehr gross. Marc richtete sie spartanisch ein und ging freitags und samstags tanzen. Am Anfang überraschte es ihn noch, dass offenbar nicht nur seine Schwester diese Marotte hatte. Er spürte, wie verschiedene Frauen nun seinen Hosenladen begutachteten und ihn mit ihren Blicken zu mehr einluden. Mark war Anfang Zwanzig und gutaussehend. Für ihn schienen die Frauen wie im Supermarkt Schlange zu stehen. Er hatte die Wahl, jemanden auszusuchen und mit nach Hause zu nehmen. Ob dabei gebrochene Herzen zurückblieben oder unbefriedigte Frauen, interessierte Marc damals nicht. Seiner Meinung nach, hatten sie sich ja freiwillig angeboten – was war falsch daran, sie wollten «es» ja. Sex, unverbindlich und ohne Verpflichtungen. Wenn die eine nicht passte oder mehr wollte, dann gab es genügend andere Frauen, die warteten.
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