Rayan und Ibrahim hatten im Vorfeld alle Alternativen abgewogen. Doch die Chance, dass Mahmoud eine List plante, erschien ihnen durchaus real.
Außerdem hatte der Scheich Leila Vergeltung für den Mord an Sara versprochen. Ein Versprechen, das er nun ohne jegliche Gewissensbisse erfüllt hatte.
Bereits einige hundert Meter, bevor die ausgesandten Reiter etwa zwei Stunden später wieder das Lager erreichten, lauerten einige von Rayans Krieger ihnen auf. Sie wehrten sich erbittert, obwohl die Tarmanen ihnen versicherten, dass es besser wäre, sich zu ergeben und starben daraufhin an gezielten Treffern durch die überlegenen Waffen der Männer des Scheichs.
Der Mann namens Taib schien kaum zu verstehen, was um ihn herum vorging. Er war verwundet, stark geschwächt und kaum ansprechbar. Keine guten Chancen, ihn so noch lebend bis Alessia zurückzubringen.
Rayan ließ daher das Lager kurzerhand entsprechend befestigen und für Taib in einem der Zelte eine Lagerstätte einrichten. Der war dort noch nicht einmal ganz angekommen, als er erneut bewusstlos wurde.
Ismael, ein Tarmane, der für die ärztliche Versorgung zuständig war, kümmerte sich sofort um ihn. Offenbar hatten sich die Banditen nicht viel darum geschert, ob Taib lebte oder starb.
Er war völlig ausgetrocknet, seinen Körper zierten zahlreiche blaue Flecke und Abschürfungen. Es schien, als hätte Mahmoud seine schlechte Laune an ihm abreagiert. Vor allem war er offenbar mehrfach ausgepeitscht worden, denn die Haut auf seinem Rücken war an vielen Stellen mit rötlich-bläulichen Striemen versehen. Zudem hatten sich bereits einige davon heftig entzündet. Anscheinend hatte sich niemand die Mühe gemacht, diese Wunden zu versorgen. Viel länger hätte Taib diese Behandlung nicht mehr überlebt.
Nachdenklich starrte Rayan auf Taibs Rücken und seine eigene Vergangenheit stand ihm wieder vor Augen. Ibrahim, der vor so vielen Jahren Zeuge der Misshandlungen seines Herrn geworden war, verstand, was in ihm vorging. Rayans Leben hatte damals an einem seidenen Faden gehangen. Doch zumindest hatte Rayan keine Entzündungen erlitten, da sich seine Großmutter bereits kurz nach der Bestrafung um ihn hatte kümmern können.
Ismael hatte allerdings heutzutage erheblich bessere Mittel zu seiner Verfügung. Er reinigte die Wunden gründlich, verabreichte dann dem Verletzten etwas gegen seine Schmerzen und trug Salbe mit antibiotischer Wirkung auf. Zusätzlich brachte er ihn dazu, einige Tabletten einzunehmen. Es hatte Rayan anfangs einige Überzeugungskraft gekostet, bis die „Heiler“ die modernen Medikamente anerkannt hatten. Doch hatten sie an den Erfolgen von Doktor Scott in Zarifa gesehen, zu was die Medizin heutzutage fähig war. Ismael wich dem Doktor regelmäßig kaum von der Seite, wenn er in ihrem Tal war und sog dessen Wissen förmlich in sich auf.
Er informierte seinen Scheich, dass sie einige Tage hier an Ort und Stelle würden verbleiben müssen, denn das Wichtigste für den Patienten war nun Ruhe, damit die Medikamente ihre Wirkung entfalten konnten.
Rayan nutzte die Zeit, um die Gegend ausführlich zu erkunden. Er liebte die Wüste, deren Geheimnisse er wie kein Zweiter verstand. Manchmal sagte man ihm nach, dass er mit ihr sprach und noch wichtiger: Dass sie ihm auch antwortete.
Vor allem hielt er Ausschau nach Anzeichen, ob die Männer Mahmouds einen Racheakt planten. Von den zwanzig Männern, die bei ihrem Treffen dabei gewesen waren, waren acht den Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen. Die verbleibenden Zwölf hatte Rayan laufen lassen. Zwar hatten sie ihm als Dank, dass er ihnen das Leben schenkte, versprochen, nicht mehr zurückzukehren. Doch hielten die Tarmanen die Ehre der Banditen für wenig vertrauenswürdig und hatten daher berechtigten Zweifel an der Aufrichtigkeit ihrer Zusagen.
Allen wäre deshalb ein sofortiger Abzug aus der Region am liebsten gewesen. Das hätte Taib jedoch mit einiger Wahrscheinlichkeit das Leben gekostet. Der Ritt vom Lager der Banditen hierher hatte ihm die letzten Kräfte geraubt.
Ibrahim hatte daher eine Verdopplung der Wachen angeordnet.
Als Rayan am fünften Tag von einem seiner üblichen Kontrollritte abends ins Lager kam, war Taib zum ersten Mal für kurze Zeit ansprechbar.
Verständlicherweise war er entsprechend misstrauisch. Er hatte keinen seiner Retter jemals zuvor gesehen. Warum sollten diese so viele Mühen auf sich nehmen, um ihm, einem Straßenjungen, beizustehen?
Weder kannte er Rayan, noch dessen Vergangenheit und aufgrund der Misshandlungen der letzten Wochen war er entsprechend verunsichert. Er zweifelte daher an der Aufrichtigkeit der Tarmanen und an Rayans ehrlichem Wunsch, ihm zu helfen.
02.02.2015 - München: Englischer Garten - Fehlende Sprachkenntnisse?
Rayan beobachtete mit undurchdringlicher Miene das Herannahen der Polizisten. Vorsichtshalber hob er die Arme, denn er wollte nicht riskieren, dass sich einer der Beamten bedroht fühlte und auf ihn schoss.
Kurz darauf kamen zusätzlich die Beamten der Kriminalpolizei.
Ein kräftiger Mann mit schwarzen, etwas wirr aussehenden Haaren trat auf ihn zu. Schon von weitem musterte er Rayan kritisch und der Scheich überlegte, wie er wohl auf sein Gegenüber wirken würde: seine nassen Hosenbeine und Knie, keine Jacke, nur sein ebenfalls feuchtes Sakko, das Hemd blutbespritzt. Vermutlich kein sonderlich vertrauenerweckender Anblick, was durch den lauernden Blick des anderen bestätigt wurde. Trotzdem sagte er mit kontrollierter Stimme, der man keinerlei Emotionen entnehmen konnte: „Ich bin Kriminalhauptkommissar Weber. Wer sind Sie und was ist hier passiert?“
Natürlich hatte er Deutsch gesprochen, schließlich war man hier in München und selbstverständlich konnte Rayan jedes Wort bestens verstehen. Trotzdem versuchte er, so gut es ging fragend auszusehen und antwortete auf Arabisch: „Ich verstehe Sie leider nicht. Ich spreche Ihre Sprache nicht.“
Er sah sofort an der Reaktion des Kommissars, dass sein Plan aufgehen würde – denn der verstand kein Wort von dem, was er gesagt hatte. Stattdessen fluchte er und versuchte es jetzt auf Englisch. Doch wiederum zuckte Rayan die Achseln, öffnete die Arme in einer Geste, die unterstreichen sollte, dass er hilflos sei und wiederholte seine arabischen Worte.
„Verdammte Scheiße! Wir brauchen hier einen Dolmetscher! Ist hier ein Beamter, der Arabisch spricht?“, maulte Weber in die Runde.
Erleichtert stellte Rayan fest, dass alle Anwesenden die Köpfe schüttelten. Das Spiel diente lediglich dazu, Zeit zu gewinnen, bis Hanif und die anderen sicher in der Luft waren. Denn er baute darauf, dass man keine Großfahndung starten würde, solange ein Verdächtiger vor Ort war.
Langsam begann Rayan, ernsthaft zu frieren. Er vermutete, dass dies auch zum Teil daher kam, dass nun die Anspannung nachließ. Und die Feuchtigkeit seines Anzuges trug auch nicht dazu bei, dass er sich besser fühlte.
Weber schien sein wachsendes Unbehagen zu bemerken, denn er deutete ihm mit einer Handbewegung an, er solle ihm zum inzwischen eingetroffenen Einsatzbus folgen. Zunächst durchsuchte einer der Beamten unter der strengen Aufsicht des Kommissars den Verdächtigen, doch in dessen Taschen fand sich nichts: kein Geldbeutel, kein Handy und schon gar keine Ausweise. Dann organisierte er ihm eine Decke und bot Rayan einen heißen Kaffee an, den dieser gerne entgegennahm.
Dabei sprach der Kommissar kein Wort, was ungewöhnlich war, denn normalerweise unterstrichen die Menschen ihre Gesten mit Worten, für den Fall, dass er doch einige Brocken Deutsch verstehen könnte. Nicht so Weber – er schien sich nicht mit Überflüssigem aufzuhalten. Doch permanent hielt er Rayan kritisch im Blick. Keine einzige von dessen Bewegungen entging ihm. Ahnte er, dass der Scheich sich nur verstellte?
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