Seit es sich in Berlin herumgesprochen hat, beginnt in der Wilmersdorfer Straße der Unterricht schon am frühen Morgen. „Immer mehr Möchtegern-Autoren melden sich, die vom schnellen Geld träumen“, sagt Ladeninhaber Scheinder in die Kamera. „Ich kann sie unmöglich alle einlassen! Wer bei uns keinen Platz findet, drückt sich draußen die Nase am Schaufenster platt. Ich müsste es wieder einmal putzen...“
Was sein Erfolgsrezept sei, will die Moderatorin Andrea Meier wissen. „Wie diese Meisterwerke entstehen, kann ich nicht sagen“, gesteht Scheinder. „Wüsste ich es, ich wäre reich und berühmt...“ Andrea Meier lässt nicht locker: “Mir ist soeben eine Super-Idee für einen Thriller gekommen. Wie erkenne ich meine Begabung?“
Als Redakteurin des Öffentlich-Rechtlichen Fernsehens brauche sie keine Begabung – jedenfalls keine literarische, beruhigt sie Scheinder. „In Hamburg und München haben TV-Redakteurinnen ohne jedes Talent ihre eigenen Drehbücher über Jahre hinweg selbst angekauft und produziert, gelegentlich unter Pseudonym. Und erst eine steht vor dem Kadi...“
Geh in die Motzstraße, wenn du auf Uniformen stehst
Motzstraße (Schöneberg)
„Bei der Polizei wurde Tim nicht angenommen. Einen Grund haben sie ihm nicht genannt. Vielleicht war es sein auffällig zur Schau gestelltes Interesse für die Dienstkleidung von Polizisten“, erzählt Rosa von Praunheim, der zurzeit in Schöneberg hinter der Kamera steht. Jedem Polizeibeamten habe Tim hinterhergeschaut. „Das sind höhere Wesen für ihn. Schon als Kind hat er sich gewünscht, einen mal anzufassen, traute sich aber nie.“ Mit mühsam verhohlenem Spott haben sie Tim zu verstehen gegeben, bei der Polizei sei kein Platz für ihn. „Geh in die Motzstraße, wenn du auf Uniformen so scharf bist!“ sagten sie ihm. Für Tim war die Ablehnung ein herber Schlag. Aus dieser tiefen Verletzung seines Protagonisten, sagt Rosa, hat sich die Handlung seines neuesten Filmprojekts ganz natürlich entwickelt.
Heute wird im Military Store in der Motzstraße gedreht. Unter sachkundiger Anleitung des Ladenbesitzers, der ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift Police und eine Menge leise klirrender Ohrringe trägt, probiert der Darsteller eine Uniform an. „Warum ist die Hose vorn offen?“ will er wissen. „Der Junge ist eine Idealbesetzung“, flüstert Rosa mir zu, „ganz unschuldig, hat überhaupt keine Ahnung, was hier gespielt wird...“ Ketten mit kleinen Schlüsseln, Lederarmbänder mit Schlössern... ob das alles zur Ausstattung eines Polizisten gehöre, will der Junge vom Ladenbestzer wissen. „Die Gasmaske... darf ich die mal aufsetzen?“ Unbemerkt gibt Rosa seinem Kamerateam ein Zeichen: „Das drehen wir mit!“ flüstert er. „Herrlich, diese Naivität!“ Unter der Gasmaske kriegt der Darsteller fast einen Erstickungsanfall. Als man sie ihm abnimmt, ist er high, möchte sie am liebsten noch mal aufsetzen...
Wie geht die Story weiter? „Er kauft sich auf Pump eine Uniform, einen Schlagstock und überdimensionale Stiefel, um nachts, wenn alles im Kietz ruhig ist, auf Streife zu gehen“, sagt Rosa. „Das ist für ihn Glück.“ Seine nächtlichen Streifen müssen allerdings noch mit dem Kontaktbereichsbeamten abgesprochen werden. „Aber der zickt herum...“
Rosa drückt aufs Tempo. Er hat sich vorgenommen, bis er siebzig wird, noch siebzig Filme zu drehen.
Die Legende vom gemütlichen Unrechtsstaat
Bölschestraße (Friedrichshagen)
„Auf dem Marktplatz, unter dem Denkmal Friedrichs des Großen, lernten sie sich kennen. Sie war Kassiererin des Museums im Wasserwerk, er Straßenbahnfahrer der Linie 61. Sie heirateten in der Christopheruskirche. Die Hochzeitsfotos ließen sie im Atelier für Photographie gegenüber der Kirche anfertigen. Mit vielen Gästen feierten sie im Ballsaal der Trattoria Treselo. Im Müggelsee ertranken sie bei einem Segeltörn. Das Bestattungshaus Münzel nahm den tief bekümmerten Eltern alle Sorgen um die doppelte Bestattung ab, sorgte für einen Trauerredner. Und der war ich...“
So beginnt ein Film, dessen Dreharbeiten in diesen Tagen in Friedrichshagen beginnen. Mit den geschilderten traurigen Ereignissen endet die Filmstory nicht. Regisseur Andreas Dresen, unterstützt von Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase, begleitet die allzu früh Verstorbenen ins Paradies – er lässt sie zurückkehren in eine DDR, die dem Traum von einer heilen Welt zu 97,5 % nahekommt. Niemand beklagt sich hier über Hartz IV, weil alle Werktätigen Niedriglöhne haben. Im Paradies der Werktätigen werden die Häuser nicht zwangsweise wärmegedämmt, daher bleiben die Mieten erschwinglich. Die Kids müssen hier vierzehn Jahre auf ein Smartphone warten, daher können sie sich zu ganz normalen Staatsbürgern entwickeln. Niemand braucht Flüchtlinge aus dem Nahen Osten oder Afrika zu fürchten oder Neonazis, die sie bekämpfen - der Schutzwall ist dicht. Wer hier Liebes- oder sonstigen Kummer hat und eine Selbstverpflichtung als IM, findet jederzeit ein offenes Ohr bei seinem Führungsoffizier. Wer einen Wessi-Bekannten denunziert, kann zur Belohnung mit Familie eine schöne Zeit am Ostseestrand verbringen, und wer Urlaub auf der Krim machen möchte, wird nicht mit Rotarmisten verwechselt, die dort als Urlauber getarnt ihr Unwesen treiben.
Die Filmproduktion kalkuliert mit Scharen von Ossis, die sich das Porträt eines sanften Unrechtstaates zwei- oder dreimal ansehen werden. Auf der nächsten Berlinale ist dem Streifen, wie vielen Filmen von Dresen, ein silberner oder sogar goldener Bär gewiss.
Eine Schulstunde unter den Augen Europas
Senftenberger Ring (Reinickendorf)
Die Augen Europas sind auf das Märkische Viertel gerichtet - Arte plant eine Reportage aus dem Atrium . Heute wird die neu gestaltete Gartenanlage des Reinickendorfer Kulturzentrums eingeweiht. Auf der Terrasse tobt sich eine Schülerband aus. Später drängt alles in den Theatersaal. Vor laufender Kamera gesteht die Leiterin des Theaterkurses, sie habe keine Ahnung, was gleich auf der Bühne geboten wird. „Wir haben unseren Kindern diesmal freie Hand gelassen“, lacht Gisela Burda. „Das einzige, was wir herausgekriegt haben: die Geschichte spielt in einem Sportverein...“
Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei auf eine Dusche, unter der ein jüngerer Schüler steht. Zu ihm gesellt sich ein älterer Schüler, er trägt um den Hals ein Schild mit der Aufschrift Trainer . Den Zuschauern stockt der Atem, als der Trainer Hand an das Kind legt, das sich vergeblich zu wehren versucht. Szenenwechsel. An einem Barren turnt ein Junge. Der Trainer leistet Hilfestellung, greift dem Jungen in den Schritt. Leise Schreie des Entsetzens aus dem Zuschauerraum. Ein Kind schlüpft in ein Zelt, der Trainer kriecht hinterher. Heftig bewegen sich die Zeltbahnen. Vereinzelt Rufe aus dem Zuschauerraum: „Aufhören!“ Andere zischen: „Weitermachen!“
Zerzaust kommt der Junge aus dem Zelt. „Mir glaubt einfach keiner!“ ruft er den Zuschauern zu. Er sei gezwungen worden, bestimmte Handlungen zu vollziehen, für die es Fachworte gebe, die nicht jugendfrei seien. Derweil werden Bilder eines Zeltlagers auf die Rückwand der Bühne geworfen. Am Lagerfeuer betatscht ein Erwachsener kumpelhaft Kinder in Sportkleidung.
„Ich wusste nicht, was passiert“, sprechen die Kinder im Chor. „Ich hoffte, dass es möglichst schnell vorbei ist und nicht wieder passiert... Ich dachte, ich bin der einzige, dem er sich so liebevoll zuwendet.“ Sie halten Schilder hoch mit dem Logo des Sportvereins, mit Namen und Adresse des Trainers, mit einem Foto von ihm. „Was wir uns wünschen: Dass dieser Mensch keine Macht mehr über mich ausüben kann...!“
Hinterher beim kalten Buffet wendet Schulleiter Lutz Lienke sich an die Arte-Moderatorin Anja Höfer. „Das werden Sie hoffentlich nicht ungeschnitten senden?“ fragt er besorgt.
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