"Wenn ich dir gesagt hätte, was ich vorhabe, hättest du die Hand weggezogen. Deshalb muss man sie eigentlich festbinden. Aber so geht es schneller“, sagt er. Er legte den Hammer wieder weg.
"Jetzt nur noch einmassieren" Er zog meine Hand zu sich und drückte zu allem Überfluss darauf herum. Nach einer gefühlten Stunde, die vermutlich nur einige Minuten dauerte, war das Überbein tatsächlich verschwunden.
"Was machen eigentlich all die Rentner in deinem Wartezimmer?", fragte ich ihn und erzählte von der Frau mit eigenem Sitzplatz.
"Die kommen aus dem Altersheim St. Maternus. Nach dem Frühstück gehen sie einkaufen, spazieren oder zum Arzt. Was sollen sie auch sonst machen. Besser als vor dem Fernseher zu hocken. Jeden Tag haben sie etwas anderes. Ich kann oft nicht sagen, ob die Schmerzen, die sie haben, real sind. Dann bekommen sie Placebos verschrieben. Wenn sie die schlucken fühlen sie sich besser. Keine Nebenwirkungen, nur Mehl und Zucker."
„Na, dann bis Sonntag“ sagte ich und ging.
Ohne Überbein, aber mit Schmerzen in der Hand verließ ich die Praxis.
Am Sonntagmorgen änderte Opa die Planung und lud sich zu uns zum Kaffee ein. Kurz nach vier parkte er den beige-grauen 200er Mercedes halb schräg auf den Bürgersteig vor unserem Haus. Vielleicht war es mangelnde Übersicht, vielleicht auch Desinteresse, dass er den Bürgersteig größtenteils versperrte.
Er stieg aus, grüßte unseren Nachbarn, freundlich mit „Guten Tag, Herr Derrick“, und klingelte dann zweimal kurz hintereinander an unserer Haustür. Herr Reddig ging verunsichert weiter.
„Das ist der Opa, kann wer anderes aufmachen?“, rief meine Schwester Susanne. Sie sprach nicht mehr mit Opa, wegen Frank.
Ich mochte Frank von Anfang an. Er war witzig, kontaktfreudig und sprühte vor Intelligenz. Ich ahnte gleich, dass er schon bald Susannes neuer Freund sein würde. Er war im Sommer mit seiner Familie in unser Viertel gezogen und ging mit Susanne in die 11. Stufe des Gymnasiums. Eines Tages spielten wir gemeinsam Karten.
"Rate mal, welche Religion der Frank hat", fragte Susanne.
"Katholisch" antwortete ich automatisch und legte eine Karte.
"Es ist die älteste Religion der Welt", sagte Susanne
"Buddhist?“ versuchte ich und überlegte, wie es weitergehen sollte mit meinem Blatt.
"Nein, Jude", sagte Susanne in einer Mischung aus Stolz und Begeisterung.
Ich bekam einen Schreck. Wieso war mir selbst unklar. Es war eine unbestimmte Angst, etwas falsch gemacht zu haben. War es antisemitisch, nicht zu wissen, dass die jüdische die älteste aller monotheistischen Religionen war?
Frank war der erste Jude, den ich kennenlernte, außer Heinz Galinski, den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, einen alten Mann im Fernsehen, der immer einen schwarzen Hut und einen schwarzen Mantel trug und mit griesgrämiger Miene vor Denkmälern gezeigt wurde.
Mein zweites Gefühl nach dem Schreck, etwas falsch gemacht zu haben, war Verwunderung. Waren die Juden nicht alle umgebracht worden und die Überlebenden in Israel oder Amerika?
Frank sah meine irritierte Miene und grinste mich an.
Er kannte das Erstaunen, das seine Religion bei Gleichaltrigen auslöste . Unzählige Male waren wir in der Schule in Deutsch, Geschichte und Sozialwissenschaften, aber auch in Jugendgruppen mit der Judenverfolgung und dem Holocaust konfrontiert worden. In einer Art Dauerberieselung wurden wir mit der Zeit zwischen dem Ende der Weimarer Republik und der Befreiung der Konzentrationslager überhäuft. Biographien, Zeitungsberichte und Fernsehdokumentationen, alles beschäftigte sich in deutscher Gründlichkeit mit KZ´s und ließ die Juden in unserem Weltbild auf Ausschwitz zusammenschrumpfen. Folge war eine nebulöse Scham ein Deutscher zu sein. Obwohl wir getauft waren, wodurch wir nach christlichem Glauben von der Erbsünde befreit sein sollten, waren wir mit der Erbsünde befleckt.
Mein vermeintliches Wissen als 20-jähriger über Israel konnte ich fast in einem Satz zusammenfassen. Die Juden, die den Holocaust überlebten, sammelten sich in Kibbuzen in Israel, um als hervorragende Kampfpiloten die Araber zu besiegen.
Plötzlich saß ein Jude vor mir. Wir spielten weiter Karten. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Konnte ich fragen, ob es schwierig war, Jude in Deutschland zu sein? Das Wort Jude kam mir nicht über die Lippen. Ich war mir nicht sicher, ob es beleidigend oder vielleicht rassistisch war, so, als würde man einen Farbigen als Neger bezeichnen. Also spielten wir weiter Karten und seine Religion kam nicht mehr zur Sprache. Frank und Susanne wurden für einige Zeit ein Paar und Frank für einige Jahre ein guter Freund. Ich habe ihn nie etwas gefragt, das mit seiner Religion zu tun hatte. Die Unsicherheit aus der Erbsünde war zu groß.
Seit Susanne mit Frank zusammen war, akzeptierte sie Opas Rassismus nicht mehr als die peinliche Marotte, als die sie den anderen Enkeln erschien. Sie hatte beschlossen ihn mit Nichtachtung zu strafen.
Ich lief die Treppe runter und öffnete die Haustür.
„Bin doch nicht zu spät, oder?“, fragte Opa.
„Nein, akademisches Viertel. Der Tee ist schon gekocht und der Kuchen steht auch bereit“, antwortete ich.
„Gut. Hol mal den ADAC-Atlas und einen Textmarker, dann planen wir die Route“, sagte er und setzte sich an den Esszimmertisch.
Mein jüngerer Bruder Martin begrüßte den Opa, setzte sich zu uns und nahm sich ein Stück Kuchen.
Ich schlug die Übersichtskarte der Autobahnen auf. An der Route Köln - Berlin gab es nicht viel zu planen.
„A4 bis Heumarer Dreieck, A3 bis Leverkusener Kreuz, A1 bis Kamener Kreuz und A2!“, sagte ich.
„Ja, aber welche Grenzübergänge?“, fragte Opa, und kaute energisch den Nusskuchen meiner Mutter.
„Warte mal. Hier steht Helmstedt. Und der in Berlin heißt Dreilinden“, sagte ich.
„Gut, zeichne die Route mit dem Marker nach“, sagte er, und ich tat es.
„Wo übernachten wir?“, fragte ich, goss mir noch etwas Earl Grey nach und gab Milch und Zucker dazu. Opa beobachtete dies mit Misstrauen.
„Milch in den Tee? Nee, du bist doch kein Engländer!“ Seine Aussprache war nun lauter und feucht.
„Nein, aber seit dem Schüleraustausch in Ramsgate mag ich es so. Obwohl der Tee hier nie so gut schmeckt wie in England“, ich lächelte breit.
„Nun gut. Wir werden im Grandhotel Esplanade übernachten. Das ist ein 4-Sterne Hotel“, sagte Opa
„Weißt du schon, was wir alles anschauen?“, fragte ich.
„Das Brandenburger Tor und die Mauer, den Reichstag, die Siegessäule, den Tiergarten, den Kudamm, die Gedächtniskirche, das KaDeWe und Ostberlin mit dem ägyptischen Museum.“ Er schwenkte die Hand im Kreis.
„Was ist das für ein Kongress, den du besuchen willst?“
„Onkologie“, sagte er mit spitzem Mund.
„Hat das was mit Kaffee zu tun?“, fragte Martin.
„Nein, Onkologie ist die Lehre vom Krebs“, sagte Opa.
„Wieso interessierst du dich auf einmal für Krebstherapie? Ich dachte, du würdest Aidsforschung betreiben?“, fragte ich.
„Vielleicht habe ich mich mit Aids geirrt, aber Krebs ist auch eine gefährliche Krankheit“, sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung, aber seine Stimme war nicht so fest wie sonst.
Dass er sich mit Aids geirrt hatte, war klar. Da es in der Anfangszeit hauptsächlich Schwule traf, hatte Opa die fixe Idee, dass die „abnormen“ Sexpraktiken die Darmflora schädigten und damit auch das Immunsystem.
„Und du nimmst an dem Kongress teil?“, fragte ich
„Ja, nein, ich werde mit einigen der bedeutendsten Forscher auf diesem Gebiet sprechen und sie mit meinen Theorien vertraut machen. Der Kongress findet ebenfalls im Hotel Esplanade statt. Da wird sich im Restaurant schon eine Gelegenheit ergeben“, sagte er.
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