Doch zu Sedats großer Überraschung, verneigte sich Zadre tief vor dem Scheich und kniete sich dann hin. Er schwieg, denn er wusste, dass man ihn noch nicht zum Sprechen aufgefordert hatte. Somit gab er zu erkennen, dass er Sedats Überlegenheit anerkannte.
„Sprich – was willst du?“, fragte Sedat ungeduldig.
„Ihr habt uns besiegt, Herr“, begann er ohne Umschweife. Sein Tonfall war dabei so höflich, dass der Scheich einen überraschten Blick mit seinen Leibwächtern wechselte.
„Diesen Sieg werden ich und meine Männer anerkennen. Entsprechend werden wir euch auch einen Eid leisten, in dem wir uns verpflichten, niemals mehr die Waffen gegen Euch oder Eure Familie zu erheben“, Zadre hielt inne, um diese Worte wirken zu lassen, bevor er zum unangenehmen Teil der Frage kam.
„Doch auch wenn wir Euch als Sieger anerkennen, verspüren wir keinen Wunsch, ins Große Tal zurückzukehren. Wir leben schon so lange hier draußen in der Wildnis, dass wir gerne unter uns bleiben würden. Ich spreche für mich und 32 weitere Personen, wenn ich Euch, edler Herr, darum bitte, uns die Erlaubnis zu erteilen, hier zu bleiben.“ Er hielt kurz inne, fügte dann aber schnell hinzu: „Wir schwören Euch, in Frieden zu leben und keinerlei Aktionen gegen Euch oder die Euren zu planen oder zu unternehmen.“
Sedat war durch die höfliche Art und den angekündigten Schwur etwas besänftigt, denn dieser Mann war definitiv nicht hier, um ihn herauszufordern oder ein sinnloses Kräftemessen zu provozieren. Trotzdem war es sein erster Impuls, den Wunsch abzulehnen. Wie sollte er jemals kontrollieren können, was diese Gruppe hier draußen tun würde? Er konnte sich schon denken, warum diese bleiben wollten: um sich seinem Einfluss zu entziehen. Das durfte er nicht zulassen. Andererseits lag die Vermutung nahe, dass keiner der Anhänger Zadres die andere Alternative wählen und zusammen mit den anderen Verbannten Zarifa verlassen würde. Sie würden einfach bleiben und sehen was passierte. Damit würden sie Sedat dazu zwingen, zu reagieren: Es würde bedeuten, dass er doch noch fast 50 Menschen zum Tode würde verurteilen müssen – Zadres Gruppe und einige weitere hartnäckige Sturköpfe. Was für ein Dilemma!
Einige Minuten lang schwieg Sedat. Er überlegte, was er tun konnte, um eine unblutige Lösung zu finden. Dafür war es wichtig, nicht einfach nur nachzugeben, sondern selbst Forderungen zu stellen. Und das brachte ihn auf eine Idee.
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt – Zielvorrichtungen
Rayan hatte bei der Untersuchung von Hanifs Wunde festgestellt, dass dessen rechter Lungenflügel von der Kugel durchbohrt worden und daher in sich zusammengefallen war. Mit jedem Atemzug hatte sein Freund Luft in die Lunge geführt, welche jedoch nicht mehr nach draußen gelangen konnte. Diese Situation hatte offenbar dazu geführt, dass sein Herz durch den ansteigenden Druck nicht mehr richtig arbeiten konnte. Das Einzige was nun half, war eine Thoraxentlastungspunktion, um der Luft einen Punkt zum Entweichen zu verschaffen. Instinktiv griff der Scheich an seinen Gürtel. Er fluchte erneut laut, als ihm die leere Stelle an seinem Gürtel schmerzlich in Erinnerung rief, dass er völlig unbewaffnet war.
„Jassim!“, rief er seinem Leibwächter zu. „Messer!“, mehr Kommunikation war nicht notwendig. Der Tarmane war Krieger genug, um sich zu denken, was vor sich ging, oder zumindest jetzt keine langen Fragen zu stellen. Schon Sekunden später fing Rayan geschickt das im Bogen in seine Richtung geworfene Multifunktionsmesser auf.
Nun musste er die richtige Stelle finden, denn ein Einstich, der zu tief unten am Körper erfolgte, würde die Leber beschädigen. Die richtige Höhe ließ sich anhand der Brustwarze bestimmen. Vorsichtig tastete er diese Körperregion ab, bis er sich sicher war, den richtigen Punkt gefunden zu haben. Er atmete tief ein, dann drückte er die Klinge vorsichtig in den Körper seines Freundes. Ein zischendes Geräusch bestätigte ihm, dass er alles korrekt gemacht hatte. Nun konnte die überschüssige Luft entweichen.
Er wartete einige Sekunden und prüfte dann erneut Hanifs Puls. War das Herz in der Lage durch den reduzierten Druck von alleine zu schlagen? Doch Rayan konnte noch immer keinen Herzschlag spüren. „Komm schon Hanif – mach mir doch hier jetzt nicht schlapp“, sprach der Anführer der Tarmanen mit seinem Freund. Doch es half nichts: Hanifs Herz benötigte Unterstützung – er musste nachhelfen, um es wieder in Gang zu bringen.
Er begann mit Mund-zu-Mund Beatmung. Mit geübten Bewegungen konzentrierte er sich auf den richtigen Rhythmus.
„Eins, zwei, drei …“, drückte Rayan mit aller Kraft auf den Brustkorb seines leblosen Freundes, dann blies er ihm Atem ein … und noch einmal … Schweiß rann ihm vor konzentrierter Anstrengung bei der stets weiter zunehmenden Hitze in Bächen vom Körper, aber er merkte es nicht einmal. Nur undeutlich hörte er, dass Jassim an der Tür noch immer hin und wieder einen Schuss abgab, vermutlich um die Angreifer in Deckung zu zwingen, denn wenn diese auf das Hausdach des Gebäudes gelangten, in das sie sich Zutritt verschafft hatten, waren sie geliefert! Der Innenhof bot ihnen keinerlei Deckung.
Plötzlich spürte Rayan ein Knacken und wusste, dass er Hanif mindestens eine Rippe gebrochen hatte. Er fluchte laut, doch er reduzierte weder seinen Kraftaufwand, noch änderte er den Rhythmus seiner Bewegungen. Gebrochene Rippen waren ein typischer Nebeneffekt bei der Wiederbelebung, der immer auftreten konnte. Darüber würde er sich später Gedanken machen. Genauso wie über die Einschusswunde, die Hanif davongetragen hatte und die beständig weiter blutete. Die Hauptsache war, dass er endlich einen eigenständigen Herzschlag bekam.
Als Rayan schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, spürte er auf einmal, dass seine Bemühungen erfolgreich waren. Erleichtert atmete der Scheich auf, als er ein leichtes Atemgeräusch hörte. Schnell wurden Hanifs Atemgeräusche regelmäßiger. Er dankte Allah, dass sein Bruder noch einmal von der anderen Seite zurückgekehrt war. Noch war Hanif alles andere als über den Berg, aber zumindest atmete sein Körper wieder von alleine.
„Ich habe ihn Jassim! Hanif atmet wieder – für den Moment jedenfalls“, rief Rayan erleichtert seinem Leibwächter zu und fragte dann: „Wo stehen wir?“
„Es sieht nicht gut aus – sie belagern uns mit mehreren Männern. Mindestens ein halbes Duzend. Alle haben Gewehre und wissen mit diesen umzugehen. Durch diese Tür kommen wir jedenfalls nicht wieder hinaus. Wir müssen uns schnellstens was einfallen lassen, bevor mir die Munition ausgeht.“
17. Mai 2016 – Alessia – Die entscheidende Befragung
In Windeseile war Faris zum Revier zurückgefahren. Er war normalerweise ein gelassener und routinierter Fahrer, dem der übliche Trubel auf Alessias Straßen von Menschen gemischt mit Kutschen, Pferden, Eseln, Hunden und oft sogar Hühnern eigentlich nicht aus der Ruhe brachte. Doch nun wollte er so schnell wie möglich sein Ziel erreichen, denn er spürte, dass das anstehende Gespräch den Durchbruch bringen könnte. Kaum, dass er den SUV auf dem für ihn reservierten Parkplatz im Hinterhof des Justizgebäudes abgestellt hatte, sprang er heraus. Er musste sich zurücknehmen, um nicht ins Gebäude zu rennen. Als er wenige Minuten später am Eingang zum Verhörzimmer ankam, stand vor der Tür einer seiner Beamten Wache. Ein gutes Zeichen, denn dann war der Gefangene schon dorthin gebracht worden und wartete im Raum bereits auf ihn.
„Kommissar, wie befohlen haben wir den Fahrer der Transportfirma für Sie zum Verhör bereit“, salutierte der Polizist artig.
Faris nickte zufrieden und bemühte sich, sein sonst so perfektes Pokerface wenigstens einigermaßen aufzusetzen, als er in den Raum trat.
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