Yahya Wrede
Der Cyber-Mönch
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Inhaltsverzeichnis
Titel Yahya Wrede Der Cyber-Mönch Dieses ebook wurde erstellt bei
Morgendämmerung - Die Ruhe vor dem Sturm
Freiheit in Ketten
Tag 1 - Nun komm der Heiden Spaß
Der erste Traum
Der erste Vormittag
Das Wort zum Sonntag
Der erste Nachmittag
Tag 2 - Die sich öffnende Hand
Der zweite Traum
Der zweite Vormittag
Des Jagdfiebers fette Beute
Der zweite Nachmittag
Tag 3 - Klatschen mit einer Hand
Der dritte Traum
Der dritte Vormittag
Getrenntes Zusammensein
Der dritte Nachmittag
Tag 4 - Der Berg ruft
Der vierte Traum
Der vierte Vormittag
Der vorherbestimmte Zufall
Der vierte Nachmittag
Tag 5 - Der Berg antwortet
Der fünfte Traum
Der fünfte Vormittag
Die Waldmenschen
Der fünfte Nachmittag
Tag 6 - Der erwachende Bruder
Der sechste Traum
Der sechste Vormittag
Von der unvollendeten Vollendung zu der Unvollendeten Vollendung
Der sechste Nachmittag
Tag 7 - Die Metamorphose der Realität
Raum der Wahrheit
Ist Wahrheit wirklich wahr?
Raum der Zeit I: Vergänglichkeit
Raum der Zeit II: Ewigkeit
Raum der Ermahnung
Raum der Einheit I: pars pro toto
Raum der Einheit II: Unio Mystica
Fanà
Raum der Entscheidung
Raum der Liebe
Der Abend
Der siebte Traum
Der siebte Vormittag
Abenddämmerung - Der Stein der Weisen
Der oder das neue Morgen
Anmerkungen
Impressum neobooks
Morgendämmerung - Die Ruhe vor dem Sturm
Es sind die einfachen Dinge des Lebens, die niemals aufhören, uns zu faszinieren. Die Niagarafälle bestaunt man beim ersten Mal, oder Manhattan, beim zweiten Mal kommt einem das alles schon irgendwie bekannt vor, und ab Besuch Nummer drei guckt man dann bereits gar nicht mehr so richtig hin - es sei denn, man kommt nochmals mit jemandem vorbei, der es noch nicht kennt, und sieht es wieder neu mit dessen Augen; aber ein Sonnenuntergang, ein einfaches Lichtspiel! Und man hält jedes Mal wieder für einen Moment inne und denkt inspiriert an etwas Größeres. Gleiches mit dem Essen: französische Raffinesse, nouvelle cuisine: wunderbar, aber heute nicht schon wieder, bitte; ganz einfache Hausmannskost dagegen, ein knuspriges, frisches Brot, etwas Käse, Oliven dazu, ein Apfel, daran kann man sich jeden aufs neue Tag laben, ohne dessen jemals satt zu werden. Trotzdem streben wir unbelehrbar wie die Motten immer wieder zum verhängnisvoll Außergewöhnlichen, anstatt das Normale zum Ideal zu erheben, wollen die Verbesserung dessen, was doch längst mehr als gut genug für uns ist, müssen die letzte technische Errungenschaft auch noch besitzen, ohne Rast und Ruhe, bis wir dann früher oder später bei der Jagd über unsere eigenen, zu langen Wunschbeine stolpern. Wie bitte? Kleine Denkpause? OK, mach ich gern, bitteschön ...
Dankesehr! Ja, so saß der Triv gemütlich bei sich zu Hause, an seinem Lieblingsplatz am Küchentisch, denn obgleich er ein schönes Wohnzimmer sein eigen nennen konnte, sprach ihn die Kombination von praktischen Gerätschaften und schlichter Ästhetik an, wie sie nur Küchen bieten können, industrielles Design trifft Stillleben, und so relaxte er meistens hier, am Küchentisch eben, und hing seinen Gedanken nach, jetzt, zum Feierabend, endlich, nach einem anstrengendem Tag, einer anstrengenden Woche, einem anstrengenden Monat, vielleicht sogar einem anstrengenden Leben, jedenfalls kam es ihm manchmal so vor, er machte seine Arbeit ja ganz gern, Computerspezialist bei einem größeren Serviceanbieter, aber seit einiger Zeit ging es ihm öfters durch den Kopf, ob es das nun sei, was man das wahre Leben nenne, oder ob er da gerade etwas verpasse. Frau und Kinder vielleicht, sicher, das könnte ihm fehlen, doch wer weiß, wenn die Familie jetzt unten im Garten mit dem unvermeidlichen Hund spielen würde, würde er dann nicht genau dieselben Gedanken hegen wie jetzt? Mitte dreißig und schon Midlifecrisis? Bis Ende zwanzig hatte er über nichts so richtig nachgedacht, Schule eben, Abi, was alle so machen, das und der Rest hatten sich alles von selbst ergeben. Mathematik hatte ihn schon von klein auf fasziniert, dann Informatik, seine Berufswahl lag da auf der Hand, Spezialisten wurden gesucht, er hatte gleich was Passendes gefunden. Ein Spruch von Galilei hatte es ihm besonders angetan: Mathematik ist das Alphabet, mit dessen Hilfe Gott das Universum beschrieben hat. Wozu sollte man heutzutage noch religiös sein, war sein unausgesprochenes Motto, wenn es verläßlichere Quellen der Erkenntnis gibt. Und ahnte nicht, daß seine Gedanken in höchster Instanz auf Interesse gestoßen waren beim Weber seines Schicksals, der zur Stunde bereits alles fein säuberlich eingefädelt hatte, um unseren Helden gehörig auf die Probe zu stellen, ihm seine mathematisch-atheistischen Überzeugungen dergestalt ad absurdum zu führen, daß er sich bald seines eigenen Namens nicht mehr mit Sicherheit würde erinnern können. Aber wir greifen vor, noch ist ja alles ruhig, das Wochenende steht vor der Tür, und Meister Triv erinnert sich sehr wohl, und zwar genüßlich seiner Anfänge, das Eintauchen in die Wunderwelt der Algebra und der Geometrie, wie dort alles zusammenpaßt, die rätselhafte Zahl Pi 3,141, die geheimnisvollen Primzahlen - er bewunderte Gauß -, von denen die ersten neun die Summe 100 ergeben, und deren Quadrat minus 1 ab der dritten immer eine durch 24 teilbare Zahl ergibt: 5 2= 25, - 1 = 24, dann 7 2= 49, - 1 = 48, dann 11 2= 121, - 1 = 120, undsoweiterundsofort, wobei die 24 selbst aus den ersten vier Zahlen 1 x 2 x 3 x 4 gebildet werden kann, die unendlichen unfasslichen Relationen der Zahlen, Algorithmen und Gleichungen, ein Kosmos der Logik, Perfektion, Ordnung und Harmonie, frei von Widersprüchen, eine ideale Welt, auch ohne spirituell aktiven Urheber. Der erste Knick, so erinnerte er sich weiter, war dann pünktlich zum 30sten gekommen, da hatte er erstmals ernsthaft reflektiert, Schluß jetzt mit lauter Jux und Dollerei, ein Lebensabschnitt ist unwiderbringlich zu Ende, worum geht es hier eigentlich, er hätte heiraten sollen, siehe oben, aber dazu gehören ja bekanntlich immer zwei. Vielleicht bedurfte es noch gar nicht einmal so sehr der Veränderung von außen, eher einer Neukalibrierung seiner Einstellung zum Leben im allgemeinen, er hatte schon an eine Auszeit gedacht, ein Sabbatjahr, sechs Monate Motorradtour durch Südamerika, ein halbes Jahr in einem Kloster in Thailand, oder wieder mit Yoga anfangen, ging ja ganz locker damals mit Anfang 20, bis dann doch wieder irgendetwas dazwischenkam und die Sache im Sande verlief, irgendwie kam ihm alles etwas hohl vor zur Zeit. Doch in die melancholischen Töne mischten sich, ganz seinem Naturell entsprechend, auch optimistische und humorvolle Gedanken: das Leben ist kurz, alles nur eine Phase, hinterher lachen wir herzlich darüber. Heute so, morgen wieder anders, wir werden schon noch unseren Weg finden. Offen bleiben, nicht verkrampfen, dann kommt das Glück von selbst zur Tür herein. Daher wollte er jetzt auf jeden Fall erst einmal die Arbeitswoche angenehm ausklingen lassen mit süßem Nichtstun - eine seiner Lieblingsbeschäftigungen - und freiem Assoziieren, die Gedanken locker umherschweifen und aus der Strenge des analytischen Denkens ent-lassen, das entspannte ihn immer so schön. Unser Held des Alltags dachte also da weiter, wo er vor unserer erzählerischen Unterbrechung uns zuliebe höflicherweise aufgehört hatte. Bittesehr:
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