Helmut Lauschke - Maßstäbe

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Menschliche Schicksale werden verfolgt, die über die Grenze der «Normalität» hinausgehen. Die Anforderungen des Alltags sind hoch, denen nachzukommen ist, um die Aufgaben zu erfüllen. Dialogische Begegnungen finden statt, die oft unvorhergesehen sind und Anlass zur Reflexion und Analyse geben. Die Gesellschaft ist im permanenten Wandel, wobei der Mensch die Richtung des Wandels bestimmt. Der Leser wird sich der herausragenden Bedeutung bewusst, die die Schilderungen des Abnormalen und Unabwendbaren bis auf den Tag behalten haben. Es gibt wenig Zweifel, dass die Gesellschaft unter der Profitmaximierung, was Inhalt des Kapitalismus ist, krank geworden ist und tiefe Risse aufweist, die durch alle Schichten des Volkes ziehen. Die Menschlichkeit des Helfens ist rar geworden, wenn Menschen ums Überleben ringen. Das Tragenwollen der Verantwortung ist verkümmert. Jeder sucht die Schuld woanders, nur nicht bei sich. Die Konsequenzen, die aus dem Sich-unsichtbar-machen mit der Angst resultieren, zumindest die Teilverantwortung für die prekäre Situation zu übernehmen, gehen mit dem Mangel der praktizierten Menschlichkeit und dem Grassieren des allgemeinen Misstrauens einher. Die Friktion mit den quer durch die Gesellschaft ziehenden Rissen und Existenzabbrüchen, wie sie auf dem Arbeitsmarkt mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit beobachtet wird, brennt den noch verbliebenen Rest an Menschlichkeit nieder."

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Helmut Lauschke

Maßstäbe

Elf Geschichten der Besonderheit

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Inhaltsverzeichnis Titel Helmut Lauschke Maßstäbe Elf Geschichten der - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Helmut Lauschke Maßstäbe Elf Geschichten der Besonderheit Dieses ebook wurde erstellt bei

Elf Geschichten der Besonderheit Elf Geschichten der Besonderheit Der Weiße beschreibt den Schwarzen als Nicht-Weißen und verweist auf das, was er nicht ist, anstatt auf das, was er ist. [Nelson Mandela]

Die schwarz-weiße Geschichte

Der Tag und seine Dimensionen

Das Samstagabendgespräch

Die schmerzliche Bürde

Komplikation, Studium und das Leben

Chinesischer Kräutertee, das Brahms’sche Klavierkonzert und Olga Zerkow

Der Französisch-Unterricht und andere Erfahrungen am Augusta-Gymnasium für Mädchen

Mit Simon in einer kleinen Wohnung am Rande der Stadt und die Geschichte der Schülerin Ünett

Aus der Vorlesung in der Psychiatrie

Die Fahrt ins Kaokoland

Im Pendelschlag von Schuld und Entschulden

Impressum neobooks

Elf Geschichten der Besonderheit

Der Weiße beschreibt den Schwarzen als Nicht-Weißen und verweist auf das, was er nicht ist, anstatt auf das, was er ist. [Nelson Mandela]

Die schwarz-weiße Geschichte

Der Rest der Morgenbesprechung bringt die altbekannten Themen, die bereits von allen Seiten beleuchtet wurden. Das erste Problem des ekelhaften Uringestanks über dem Vorplatz des Hospitals wird von der hageren weißen Matrone vorgetragen. Dabei steht ihr die andere, kurzgewachsene schwarze Matrone bei, die entsprechende Ekelgrimassen zieht. Vortrag der einen und Pantomime der anderen Matrone lösen Nachdenklichkeit und ein Schmunzeln aus. Alle klatschen der Pantomime ihren Beifall. Es kommt zum Gelächter, als ein Kollege sagt: “Ein Pissoir von solchem Gestank kann doch nur eines sein, das die Veteranen zurückgelassen haben.” Das Gelächter wird zum Lachen, als Dr. van der Merwe sagt: “Das hält doch keine Sau aus, die gut erzogen ist.” Der Superintendent versucht, das Thema zu beenden. Er sagt, dass der Wasserschlauch von der nötigen Länge fehle, um den Vorplatz urinfrei zu spritzen. Die Order für den Schlauch hätte er vor Monaten unterschrieben und durch den Fahrer dem zuständigen Mann in Ondangwa bringen lassen, der darauf nicht reagiert habe. Dr. van der Merwe bemerkt, dass die Leute in der Verwaltung genügend Toiletten mit guter Spülung haben und noch beim Rätselraten seien.

Das zweite altbekannte Thema wird nach Wiederkäuerart von Dr. Hutman vorgetragen, der in seiner stets gebügelten Leutnantsuniform sich wegen seiner nicht zu bremsenden Intriganz den Orden eines “der Leutnant des Teufels” tagtäglich neu verdient und durch sein widerwärtiges, keiltreibendes Verhalten Ursache der gespannten Arbeitsatmosphäre ist. Dieser junge, vom System der Apartheid verdorbene Doktor und mit spitzen Ellenbogen reinstoßende Karrierist nennt die miserablen Zustände in den chirurgischen Sälen, wo die Schwestern die Anordnungen angeblich nicht befolgen, nicht zur rechten Zeit die Verbände wechseln und die Medikamente austeilen mit der Folge, dass die Wundinfektionen auf dem Vormarsch seien, die leergelaufenen Infusionsbeutel an den Tropfständern herumhängen und die Venenzugänge durch Thromben verstopfen. Dr. Hutman erwähnt die verschmierten und gebrochenen Fensterscheiben, die verstopften und stinkenden Toiletten, die angebrochenen Toilettenschüsseln, die ramponierten, nicht schließbaren Saaltüren mit den fehlenden Schlössern und Klinken, die verschmutzten Waschräume mit den tropfenden und klemmenden Wasserhähnen, die alten aufgerissenen und fleckigen Schaumgummimatratzen mit dem Uringeruch der vielen Jahre und die permanente Überbelegung der chirurgischen Säle unter den geschilderten ‘beschissenen’ Zuständen. Dieser Doktor zeichnete das Bild eines runtergekommenen Hospitals, ohne sich deshalb in die Mitverantwortung zu nehmen, mitzuhelfen, den unerträglichen Zustand zu beseitigen, beziehungsweise zu mildern und erträglicher zu machen. Ein solches ‘Krankenhaus’ wäre in Europa unmöglich, doch in Afrika ist so ein Krankenhaus dringendst erforderlich, das in einem Kriegsgebiet liegt, in dem die Schlussphase des Kampfes zur Befreiung der Menschen von der weißen Apartheid stattfindet und die Freiheits- und anderen Granaten in nächster Nähe einschlagen, dass die Böden und Wände zittern und reißen und Ärzte und Schwestern dennoch ihre Arbeit am Patienten fortsetzen.

Dr. Witthuhn räumt ein, dass diese Missstände eine lange Vorgeschichte haben und nicht von heute auf morgen behoben werden können. Die hagere weiße Hauptmatrone versichert, dass die Schwestern trotz der permanenten Überlastung ihr Bestes tun, um den

vielen und übergebührlichen Anforderungen gerecht zu werden. Die Ärzte sollen aber zur Kenntnis nehmen, dass die Aufsicht und Pflege der Patienten unter diesen Umständen und Bedingungen im Kriegsgebiet, die auch für sie zum Himmel schreien, eine physisch wie psychisch abnorme Herausforderung und schwere Belastung darstellen. Jeder, ob Arzt oder Schwester, muss den Beitrag leisten, der über die Grenze der bloßen Routine hinausgeht. Die Matrone sagt es mit sorgengefaltetem Gesicht: “Behalten Sie ständig im Auge, was sie draußen sehen, wenn Sie die Massen hilfesuchender Menschen, die zum Hospital kommen oder gefahren werden, schon am frühen Morgen auf dem Vorplatz antreffen. Wir alle haben uns bis an die Grenze des physisch Möglichen zu fordern, um diesen Menschen zu helfen. Und am wirkungsvollsten können wir es tun, wenn wir zusammenstehen, uns nicht auseinander dividieren lassen, wenn wir den Teamgeist in uns aufnehmen und uns gegenseitig unterstützen. Doch um das zu können, was von uns in elementarer Weise gefordert wird, müssen wir uns auch verstehen. Ich meine, das gegenseitige Verständnis darf dort nicht aufhören, wo die Sprache der Lippen sich von einer anderen unterscheidet.

Diese Sprachgrenzen müssen wir mit dem tieferen Verständnis, das in jedem von uns ist, durchstoßen, dann sind die Voraussetzungen gegeben, ein wirkliches und starkes Team zu bilden.” Das war die Ansprache der Matrone, die durchblickte und das Integral zur Hilfe am Menschen formulierte. Ihre Rede hatte Gewicht, die zum Denken über das Wesentliche herausfordert und motiviert. Bedrückendes Schweigen liegt im Raum. Alle sitzen mit gesenkten Gesichtern da. Nur der Superintendent sieht mit seinen geröteten Skleren der Matrone ins Gesicht. Auch er ist von ihren Worten ergriffen und verharrt einige Minuten nachdenklich und sprachlos. Ferdinand denkt, dass eine solche Ansprache an den Anfang einer jeden Morgenbesprechung gestellt werden sollte, weil es in der Rede um den Kern, um die Seele der Arbeit geht. Sie macht die Wichtigkeit deutlich, dass der Mensch über das, was er ist, und das, was er tut, aufrichtig nachdenken sollte, um den Auftrag des Hierseins zu verstehen und zu erfüllen, den Willen zu stärken, das Temperament zu zügeln, und die Fürsorge an den Menschen in Not und Elend kräftiger als bisher in die Tat umzusetzen.

Wenn die emphatische Rede verstanden und von allen beherzt in die Tat umgesetzt würde, dann wäre das der Beginn einer Menschheitszivilisation, wo es für Krieg keinen Raum mehr gibt, für die Künste dagegen ungeahnte Möglichkeiten. Die aufrüttelnde Ansprache der weißen Matrone Antje P., die von hagerer Gestalt ist und ein blasses, markantes, fast kantiges Gesicht hat, belegt die fundamentale Bedeutung, das Hospital in diesem Kriegsgebiet mit allen verfügbaren Kräften am Laufen zu halten, selbst wenn die miserablen Bedingungen und hygienischen Mängel in der Versorgung der Patienten zum Himmel schreien. Der Zustand des Hospitals erfüllt die Kriterien zur Schließung und zum Abriss. Die Spannweite von der Theorie, was ein Krankenhaus alles haben muss, um ein Krankenhaus zu sein und als solches reibungslos zu funktionieren, bis zur Praxis, war extrem groß. Doch ist es die Notwendigkeit, dass ein Hospital mit den mittelalterlich ausgestatteten Krankensälen, den Drainageproblemen an den Toiletten und den anderen sanitären Mängeln hier dringend erforderlich und noch nützlich ist. Es ist die Situation des Krieges und seiner Eskalation, weshalb man sich für das praktische Ende des extrem weiten Bogens zu entscheiden hat, der die endlose Weite einer entblößten, von Wunden geprägten Wirklichkeit überspannt.

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