Seine Ungeduld wuchs, er wollte unbedingt sehen, was darunter verborgen lag. Das trieb ihn dazu, seine eigenen Regeln zu brechen. Sonst wandte er seine Kräfte niemals an im eigenen Haus, außer in ganz seinen privaten Räumen, wenn er Mangeniohood verlassen oder betreten wollte. Doch es war tiefste Nacht und alle schliefen, sodass er es riskieren konnte, ohne beobachtet zu werden. Er überlegte, welcher der Zaubersprüche hier am wirkungsvollsten sein könnte.
Dann hob er seine Rechte und sprach leise aber bestimmt: „Obvius aperuerit mihi ianuam!“ Der Boden fing an zu vibrieren, aber die Klappe öffnete sich nicht. An normalen Zugängen hätte der Spruch eigentlich funktionieren müssen, aber dieser hier, schien zusätzlich mit einem Schutzzauber belegt worden zu sein. Also versuchte es Matthew noch einmal. Er stellte sich genau über der Klappe auf, hob beide Hände und sprach: „Merlinus ostende mihi secretum! Notam fac mihi viam, et aperuerit mihi aditus! Aperi mihi, quid in occulto!“
Plötzlich löste sich die Klappe auf einer Seite und gab mit einem Ruck den Weg frei. Matthew hob sie an und öffnete sie vorsichtig. Dann ging er zurück zur Türe und versperrte sie sorgsam, um etwaige unliebsame Überraschungen auszuschließen. Dann nahm er seine Taschenlampe zur Hand und versuchte, in der pechschwarzen Dunkelheit unter ihm etwas zu erkennen. Es sah so aus, als wäre unter ihm alles aus schwarzem Felsen gehauen. Schwarz wie die Nacht und doch leicht glänzendes Gestein. Er kletterte durch die Öffnung und ließ sich hinuntersinken, bis seine Füße den glatten steinigen Boden berührten. Eine Art Treppe war unter der Klappe so angelegt worden, dass man den erhöhten Boden erreichen konnte, ohne springen zu müssen, denn der Raum war im Allgemeinen eigentlich viel höher. Matthew stieg weiter nach unten, bis er den eigentlichen Fußboden erreicht hatte. Dann sah er sich in allen Richtungen um. Das schwarze Gestein schluckte förmlich das Licht seiner Lampe, sodass er nur mit Mühe sehen konnte. „Unnütz“, murmelte er, warf sie beiseite, hob seine Hand und sprach: „Lux!“ Das Licht, das aus seiner Hand quoll, erleuchtete jetzt hell den ganzen Raum, sodass er nun gut erkennen konnte, wo er sich befand. Er drehte sich langsam um, hob seine Hand mit dem Licht etwas höher und starrte abrupt wie gebannt auf das, was plötzlich vor ihm stand. „Endlich“, murmelte er.
3. Kapitel
Das schwarze Buch
Matthew spürte förmlich, wie die schwere Last der Sorgen von ihm abfiel. Schlagartig wurde ihm nun auch bewusst, dass es kein Traum war, in dem er Myrddin gesehen hatte. Es hatte sich nun bestätigt. Das Buch existierte tatsächlich. Er konnte fühlen, dass es hier war.
Er hob die Hand und ging auf den kleinen Schrein zu, der in der Ecke des Raumes stand. Ein hölzerner, uralter Schrein, dem die konstante Luftfeuchtigkeit der Kammer wohl zu bekommen schien. Er war in etwa einen Meter lang und sechzig Zentimeter breit. Auf dem Deckel prangten geschnitzte Symbole und Muster, die sich an allen Ecken fortsetzten. An den Seiten befanden sich eiserne Stangen, die eingehängt waren in extra dafür eingearbeiteten Kerben, auf den schwarzen Steinen, die ihn trugen. Matthew war beeindruckt von der handwerklichen Arbeit, die hier jemand vor sehr langer Zeit vollbracht hatte. Fast schon ehrfürchtig, in Anbetracht seiner Lage, berührte er den Schrein. Er konnte die Macht fühlen, die in ihm ruhte. Innerlich mehr als bewegt, überlegte er, welcher Spruch ihm hier nutzen konnte. Da es sich wohl um das Allerwichtigste von Myrddin handelte, musste es ein sehr kraftvoller Zauberspruch sein, das war ihm völlig klar. Er überlegte eine Weile, dann senkte er seine Rechte und ließ das Licht erlöschen, sodass ihn völlige Dunkelheit umfing.
Er konzentrierte sich aus tiefstem Bewusstsein, hob erneut seine Hände und sprach laut: „Libro Merlinum, liberabo vos dabitis mihi. Ostende mihi omnia secreta! Aeres volumatim ad quaedam magica facienda tuam discoperi umerum revela! Magicae magicam cui honor in saecula! aperi tibi!“
Angespannt starrte er in die Dunkelheit und wartete. Da vernahm er ein leises, ächzendes Geräusch alten Holzes, das sich bewegte. Er spürte, wie die Magie des Buches aus dem Schrein strömte und sprach: „Lux!“ Das Licht, das daraufhin aus seiner Hand quoll, bestätigte ihm, was er gehört hatte. Der Schrein hatte sich ihm geöffnet und seinen gut geschützten Inhalt freigegeben. Erleichterung machte sich in ihm breit. Er hob seine Linke, murmelte: „Lucerna Adventum“ und eine weiße Kerze auf einem hohen, eisernen Ständer erschien zu seiner Rechten. „Adolebitque!“ Augenblicklich entzündete sie sich und Matthew konnte sein magisches Licht in seiner Rechten verlöschen lassen, sodass er beide Hände frei hatte, um sich dem Buch zu widmen. Vorsichtig hob er das große, dicke Buch, das vor ihm lag, heraus. Der schwarze Ledereinband trug keinen Titel und so öffnete er den alten Metallverschluss, der sehr kunstvoll angebracht worden war. Er blätterte vorsichtig die erste, dann die zweite Seite um, bis er die ersten handgeschriebenen Buchstaben Myrddins sah. Das musste der Titel sein, denn es waren nur zwei Worte. >>Veritas Amet<< Was so viel bedeutete wie: Die Wahrheit über die Magie. Als er weiterblätterte, wurde ersichtlich, dass Myrddin seine eigene Geschichte teils in Latein, teils in Cymraeg hier aufgeschrieben hatte. Zum Glück konnte er diese zwei Sprachen inzwischen viel besser übersetzen. Elisabeth war ihm dabei eine große Hilfe gewesen.
Matthew hatte den Eindruck, als hätte Myrddin dieses Buch über einen sehr langen Zeitrahmen verfasst. Die Handschrift war durchgehend abwechselnd schön und schwungvoll, dann wieder kaum leserlich mit sehr zittriger Hand geschrieben worden. Als hätte er einmal hinten und dann wieder vorne Eintragungen vorgenommen. Matthew war etwas verwundert darüber. Das passte so gar nicht zu den restlichen Büchern in Myrddins Versteck im Felsen. Trotz allem war gerade dieses Buch seine ganze Hoffnung, im Kampf gegen Mächte der Finsternis. Aber was, wenn es nicht das enthielt, wonach er gesucht hatte? Zweifel stiegen in ihm hoch. Er nahm sich den alten Sessel, der an der Wand stand, testete zuvor, ob er sein Gewicht noch tragen konnte, und ließ sich dann beruhigt darauf mit dem Buch nieder. Mindestens achthundert Seiten mussten das sein. Es war auf jeden Fall das dickste Buch von allen. Dennoch unterschied es sich wesentlich von den anderen. Matthew blätterte vorsichtig in den vergilbten Seiten. Alles wirkte etwas wirr und durcheinander. Wild zusammengewürfelte Texte und Aufzeichnungen, die irgendwie nicht wirklich zueinander passten. Man konnte keine fortlaufende Abfolge erkennen. Vieles war in Versen geschrieben, dann wieder ganze Listen, Notizen und dann wieder weiterführende Aufzeichnungen. Matthew war verwirrt. Was hatte es damit auf sich? Warum war dieses Buch so anders als alle anderen? Für ihn war trotz allem deutlich erkennbar, dass es ebenfalls Myrddins Handschrift war, wenn auch teils sehr schwer leserlich. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste alles lesen, sonst würde er wohl kaum verstehen. Was hatte Myrddin in seinem Traum gesagt? Er müsse selber lernen? Das schien ihm in Anbetracht dieses Buches einleuchtend zu sein. Dennoch war seine Erwartungshaltung sehr viel höher gewesen, als dass es sich ihm jetzt selbsterklärend sofort offenbart hätte. Die Zeit saß ihm ständig im Nacken, auch wenn ihm bewusst war, dass Paymon derzeit noch keinen Weg gefunden hatte. Es war wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, das wusste er. Nichts anderes blieb ihm übrig, als zu lernen, und den Weg, den Myrddin von ihm erwartete, zu beschreiten. Seine Worte hatten sich bei Matthew eingebrannt. Noch einmal rief er sie sich in Erinnerung…das Buch, der Mantel, der Stab, der Ring…und dass er selbst herausfinden müsse, damit er versteht und lernt. Das war die Kurzfassung dessen, was er ihm mitgeteilt hatte, in seinem Traum.
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