Sofort und unvorbereitet bekamen wir auch den ersten vermeintlichen Eindruck vom Krieg: An der Columbuskaje lag das große Flaggschiff des Norddeutschen Lloyd, die MS Bremen, aus der eine dicke schwarze Rauchfahne herausquoll. Ein Schiffsjunge hatte das Feuer aus Wut gelegt, weil er eine Ohrfeige bekommen hatte. Er wurde später deswegen hingerichtet. Alle Anstrengungen, das Schiff durch Löscharbeiten zu retten, schlugen fehl. Es brannte wochenlang schließlich aus. Während des Krieges hat das Wrack mit Schlagseite an der Columbuskaje gelegen, später hat man es etwas Weser aufwärts geschleppt und seitlich des Fahrwassers abgelegt.
Erklärung zum Bild: Die brennende MS Bremen an der Columbuskaje in Bremerhaven
Wir schulpflichtigen Kinder wurden in der Pestalozzi-Schule, kurz nur 'Pesta' genannt, eingeschult. Nun hatten wir alle einen wesentlich kürzeren Weg von nur etwa zehn Minuten. In der Wohnung fehlte noch vieles. Eines Tages war unsere Mutter sehr aufgeregt, weil es in der Union, das war ein großer Tanzsaal an der Osterstraße, eine Auktion für Haushaltsgut geben sollte. Die Osterstraße verlief westlich parallel zur Deichstraße, und man konnte sie von der Lloydstraße aus erreichen. Diese Straße wurde nach der Ausbombung beim Wiederaufbau eliminiert, aber ein Teilstück existiert noch im Bereich nahe der Geestebrücke.
Die Bevölkerung von Wesermünde war durch die Zeitung eingeladen worden, die Haushaltsgüter vorab zu besichtigen. Mutter und ich gingen nachmittags dorthin und fanden die schönsten Sachen vor, die man gerne in einer Wohnung hätte, um sich wohl zu fühlen: Kostbares Geschirr, edles Besteck in Silber und Gold, ausgefallene Gemälde, schöne Möbelstücke, interessante Standuhren, Wäsche, Teppiche und vieles mehr. Die Leute, die sich die Angebote ansahen, gingen langsam, aber etwas scheu herum und flüsterten nur, wenn sie sprachen. Die Stimmung der Menschen wirkte bedrückt auf mich. Niemand wollte hinterfragen, woher diese erstaunlich schönen und edlen Sachen kamen. Der Bedarf war aber so groß, dass alles in kürzester Zeit vergriffen war. Das erzählte unsere Mutter am nächsten Tag, nachdem sie einiges ersteigert hatte, während wir in der Schule waren. Unser Haushalt wurde durch Klappstühle aus edlem Holz, einer wunderschönen Renaissance-Kommode, mittelbraun mit polierter Buchenmaserung und einem Gemälde mit einem religiösen Motiv aufgewertet. Das alles passte gut ins große Wohnzimmer.
Zwischen den Zimmern an der Frontseite des Hauses konnte man eine zweigeteilte große Schiebetür öffnen und das Wohnzimmer mit dem eleganten Esszimmer verbinden. Auf diese Weise entstand ein geräumiger Wohnbereich, der besonders an Feiertagen gerne von uns genutzt wurde. Allerdings konnte die Wohnung nur vom Wohnzimmer aus mit einem großen Ofen der Firma Esch beheizt werden. Um diesen Ofen herum spielte sich im Winter weitgehend unser Familienleben ab, weil es in den anderen Räumen sehr kalt war. Unser ältester Bruder David hatte von der Grundschule den Sprung in die Mittelschule geschafft, die damals auch in der Pesta untergebracht war. Endlich kam er in den Schoß seiner Familie zurück. Damit war die Familie wieder komplett. Zwischen David und mir entwickelte sich allerdings eine starke Rivalität. Mir war der Rang der Ältesten genommen worden. Obwohl wir uns eigentlich sehr gern mochten, hatten wir große Schwierigkeiten miteinander. Sie gipfelten schließlich darin, dass ich ihm im Streit die Blockflöte über den Kopf schlug, weil er immer meckerte, wenn ich darauf übte. Die Flöte erlitt Totalschaden. David musste mir daraufhin eine neue kaufen und dafür sein Taschengeld opfern, was er als ungerecht empfand. Das Thema war in der Familie jahrelang hoch aktuell und die Jungs schimpften darüber, dass ich Recht bekommen hatte. Außerdem spielte ich gerne mit den Spielsachen der Jungs, weil die doch viel interessanter waren als meine Puppen. Allerdings durfte keiner meiner Brüder diese anfassen, darin war ich sehr eigen. Die Puppen wurden von mir immer beschützt und behütet. Ich freute mich, wenn ich sie ansah, aber ich hatte keine besondere Lust, mit ihnen direkt zu spielen.
Kapitel 05 Die Lebensmittel werden knapp
Es war besonders schön, wenn sich die Familie gemeinsam um den Tisch zum Essen versammelte. Die Lebensmittelknappheit machte uns aber bereits zu schaffen. Oft gab es nicht besonders viel zu essen. Eines Mittags teilte unsere Mutter heiße Würstchen aus. Jeder von uns bekam eines davon auf seinen Teller gelegt, und alle warteten geduldig mit dem Essen, bis sich Mutter auch an den Tisch gesetzt hatte. Nur Angela hatte solch einen großen Hunger, dass sie sofort ihr Würstchen in die Hand nahm und es ganz schnell verputzte. Als Mutter endlich saß und alle anfingen zu essen, war ihr Teller bereits leer, und sie fragte ganz empört:,,Gibt es denn heute nichts als gar-nix auf den Tisch?" Alle lachten und Vater meinte nur: ,,Das hast du nun davon, wenn du nicht warten kannst!" Zum Nachtisch gab es, Gott sei Dank, noch einen von Muttis berühmten Puddingen zu essen, so dass Angela am Ende doch zufrieden war. Nur ich aß nicht gerne Pudding. Oft tauschte ich mit Vater meinen Nachtisch gegen handfestes Essen.Wir halfen bei der Versorgung der Familie mit Nahrungsmitteln mit. So passten wir zum Beispiel auf, wann das kleine Fischgeschäft bei uns gegenüber am späten Nachmittag frische Waren bekam. Dazu mussten die Jungs oben am Fenster Wache halten, bis dort frischer Granat und Räucherfisch angeliefert wurde. Sie sausten dann wie der Blitz nach unten und kauften für uns genügend davon ein, denn zum Glück brauchte man zu diesem Zeitpunkt dafür außer Geld, noch keine Lebensmittelkarten. Wir alle aßen gerne Räucherfisch und Granat und konnten uns wenigstens am Abend satt essen. Trotz immer wieder unvorhergesehenen Fliegeralarms gab es für uns Kinder immer noch genug Abwechslung.Zu unserer großen Freude bekamen wir alle, wie jedes Jahr zu Weihnachten, von unserem Großvater Jahreskarten für die Tiergrotten und das Marienbad geschenkt. Fast täglich gingen wir schwimmen oder besuchten die Tiergrotten. Immer noch war das Aquarium besonders interessant, weil wir die täglichen Veränderungen in den einzelnen Becken sehr genau studieren konnten. Leider wurde der gesamte Hafenbereich wegen der bedrohlicher werdenden Kriegsereignisse 1943 völlig gesperrt. Das schränkte unsere Bewegungsfreiheit stark ein, und unsere Tiergrotten-Besuche waren damit nicht mehr möglich. Wir bedauerten diese Entwicklung sehr und verfluchten den Krieg, durch den wir so viele Schwierigkeiten und Enttäuschungen hatten.
Kapitel 06 Lästige Verpflichtungen
Es war für uns ältere Kinder lästige Pflicht, bei der Hitlerjugend jeweils mittwochs und samstags zwischen fünfzehn und siebzehn Uhr die Versammlungen zu besuchen. Als besonders schlimm empfand ich die Appelle, bei dem der BDM, das Jungvolk und die Jungmädchen der HJ oft stundenlang, auch bei eisiger Kälte, auf dem zugigen Schulhof der Pestalozzi-Schule in Reih' und Glied stramm stehen mussten. Bei einem dieser ungeliebten Appelle, war ein Obersturmbannführer zu Gast, der besonders die hochangesehene und von uns Mädchen stark beneidete BDM-Gruppe "Glaube und Schönheit" ansprach. Er war sehr sprachgewandt und redete nachdrücklich auf die Mädchen ein. Er verlangte mit folgenden Worten von ihnen Patriotismus gegenüber dem Führer Adolf Hitler:„Schenkt dem Führer ein Kind",denn dafür seien sie wie geschaffen. Dazu redete und erklärte er sehr viel. Für mich klang das verwirrend, und ich konnte das Ganze überhaupt nicht verstehen, wusste ich doch von zu Hause, dass nur verheiratete Leute Kinder bekommen können.Oft wurden wir Jungmädchen zu den unterschiedlichsten Zeiten aufgefordert, Dienst zu machen und mussten bereits sonntags schon um acht Uhr auf dem Schulhof der Pesta antreten. Wir marschierten im Anschluss singend mit dem Lied: "Schwarzbraun ist die Haselnuss, schwarzbraun sind auch wir…" und anderen Liedern, durch die Stadt. Ein Mal mussten wir im Schweigemarsch zum Bürgermeister-Smidt-Platz in der Nähe des Stadttheaters marschieren. Dort stellten wir uns auf und mussten Hetzlieder gegen die Juden singen. Die Texte möchte ich nicht zitieren. Ich erinnere mich, dass die Leute, die notgedrungen an uns vorbeigingen, alle den Blick von uns abwandten oder den Kopf senkten. Irgendwann im Jahr 1943 wurde plötzlich von uns verlangt, dass alle aktiven HJ-Mädchen ihren Ariernachweis schreiben sollten. Ich bekam den Befehl, in die große Holzbaracke des Bann zu kommen, die an der Uferstraße westlich der Geeste lag. Dort befand sich die Führung der Hitler-Jugend für Wesermünde. Mitzubringen waren Schreibpapier, Federhalter und Skriptol, so hieß die besondere Dokumenten-Tinte, und natürlich auch die beurkundeten Nachweise unserer Abstammung. Stillschweigend, aber äußerst verärgert, rückte meine Mutter das Geld heraus, damit ich Skriptol kaufen konnte. Jedes Mädchen aus meiner Gruppe musste fein säuberlich seine Herkunft dokumentieren, obwohl das bereits schon ein oder zwei Jahre vorher durch die NSDAP von meinen Eltern und von allen anderen Einwohnern verlangt worden war.Damals herrschte große Aufregung. Es begann eine unglaubliche Reisewelle, denn es mussten die Orte aufgesucht werden, in der die Vorfahren der Eltern geboren worden waren. Die Kirchen hatten Hochkonjunktur und gute Einnahmen. Kirchenbücher wurden gewälzt, um nach den notwendigen Herkunftsnachweisen zu forschen. Diese wurden von den beauftragten Kirchenleuten an Ort und Stelle beurkundet. Dieser Ariernachweis kostete viel Zeit und Geld und sorgte für erheblichen Unmut in der Bevölkerung. Auch in anderer Hinsicht veränderte sich vieles. Man gewann den Eindruck, dass die politische Führung die Zügel noch straffer in der Hand hielt als schon zuvor. Der Dienst bei der Hitlerjugend wurde jetzt noch genauer genommen.Oft stand eine Abordnung des Jungvolks bei uns vor der Wohnungstür und verlangte drohend die Teilnahme unserer Jungs am Dienst. Mutter sagte dann nur ganz plietsch, dass das nicht ginge, denn die seien zurzeit im Ernteeinsatz. In Wirklichkeit waren meine Brüder in Langen, um dort die Kaninchen zu versorgen. So zeigte unsere Mutter auf ihre Art ihren Unmut gegen das Regime. Eigentlich war es eine äußerst unangenehme Pflicht für die Jungs, täglich nach Langen fahren zu müssen um die Tiere zu füttern. Die Kaninchen mussten auch immer saubere Ställe haben. Bei etwa fünfzig Tieren brauchte es viel Zeit, sie ordentlich zu versorgen. Als Grünfutter mussten Schweinedistel und Löwenzahn gesucht werden. Das Futter durfte auch nicht feucht sein, damit die Tiere keinen Bläh-Bauch bekamen, das war bei Regen gar nicht so einfach. Im Winter bekamen die Tiere Heu, und darüber hinaus wurden Kartoffelschalen gekocht, damit sie in der Nacht davon fressen konnten. Das Kochen der Kartoffelschalen stank so scheußlich, dass die Jungs oft sagten: ,,Wir machen drei Kreuze, wenn das eines Tages vorbei ist." Die eigentliche Gartenarbeit nahm nicht soviel Zeit in Anspruch, weil diese jahreszeitlich unterschiedlich stark anfiel. Aber die Jungs wurden gar nicht gefragt, ob sie lieber etwas anderes hätten tun mögen. Diese Arbeit gehörte nun einmal zur Tagesordnung und musste erledigt werden. Da kannte unsere Mutter kein Pardon. Einmal musste ich einen ganz besonderen HJ-Dienst mitmachen: Es wurde eine Luftschutzübung angeordnet. Dazu mussten wir Jungmädchen uns auf einer großen Straßen-Kreuzung treffen, die in unmittelbarer Nähe des St.-Joseph-Hospitals lag. Man hatte verschiedene Feind-Brandbomben aufgebaut. Diese wurden vorgeführt, und es wurde erklärt, wie sie wirkten, auch wie man sie gefahrlos anfassen und wenn nötig, schnell aus dem Haus werfen konnte. Wir wurden besonders vor Phosphor-Bomben gewarnt, da man sich gegen diese nicht schützen kann. Diese Aktion war zwar lehrreich, aber hinterließ ein flaues Gefühl in meinem Bauch. Ich machte mir darüber Gedanken, ob in dem Mehrfamilienhaus, das wir bewohnten, die angeordneten Sicherheitsmaßnahmen im Ernstfall ausreichen würden. Auf jeder Etage zwischen den sich gegenüber liegenden Wohnungseingängen befand sich jeweils ein Eimer voll Sand und ein anderer voll Wasser. Daneben standen eine Schaufel und eine Feuerpatsche für Notfälle. So war es von der NSDAP angeordnet worden, und der Luftschutz-Wart des Hauses war dafür verantwortlich, dass alles komplett war. Man konnte nie wissen, was in der nächsten Stunde passieren würde. Wichtig war es für den Ernstfall, gut ausgerüstet zu sein. Nicht nur wir, sondern alle Menschen in der Stadt, hatten sich mit dieser Situation arrangiert. Wir waren tagtäglich durch eventuelle Angriffe alliierter Bomber bedroht und mussten uns damit abfinden, ja damit leben. Wir trotzten dieser Bedrohung, indem wir direkte Angst nicht zuließen, aber sehr wachsam waren und äußerlich anscheinend unbekümmert den alltäglichen Aufgaben nachgingen.Eines Abends erschien ein Schupo bei uns an der Wohnungstür und beanstandete rüde die kaputten Rollos im Wohnzimmer, weil dadurch Licht auf die Straße fiel. Wir konnten weder neue Rollos kaufen, noch konnten wir Material bekommen, um die verdammten Dinger zu reparieren. Lange Zeit suchten wir vergeblich nach Ersatz. Solange der Schaden nicht behoben war, vermieden wir es, abends Licht einzuschalten um keinen weiteren Ärger zu bekommen.
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