„Ah, der Paul, der alte Frühaufsteher.“
Reiner sah weiter hinaus, während er sich abtrocknete. Er wusste, dass Paul spätestens halb acht mit seinem extrabreiten Besen vor die Tür trat und nach einem Rundumblick zu kehren begann. Oft hatte sich Reiner um diese Zeit auf den Weg zu Undine zum Frühstück gemacht, mit einem kleinen Umweg zum Bäcker, um frische Brötchen zu holen. Noch war von Paul nichts zu sehen, aber eine Gestalt in schwarzer Jeans, grauer Kapuzenjacke und dunklen Sportschuhen kam hinter einer Hausecke hervor. Er hielt etwas unter dem Arm und Reiner sah genauer hin.
„Das sind doch Schuhe!“
Jetzt riss sich Reiner das Handtuch vom Körper, schlüpfte in Bademantel und Schlappen und eilte hinaus. Seine Haare standen ihm zu Berge, aber das war ihm egal. Wenn das der Schuhdieb war und er ihn direkt verhaften konnte, dann wäre das leidige Thema vom Tisch.
Er sah sich um, aber der Mann in Grau war nirgends zu sehen. Er lief ein Stück die Straße herunter, auf der anderen Seite dann wieder zurück. Das Gesicht des Mannes hatte er nicht erkennen können. Die Kleidung war nichts Besonderes, es gab sie an jeder Straßenecke und sicher hatte der Mann sie nicht in einer exklusiven Boutique gekauft. In dem Moment war sich Reiner nicht mehr sicher, dass der Mann Schuhe unter dem Arm hatte. Vielleicht war es auch ein Besucher und musste jetzt schnell zum Bus.
Kurz entschlossen ging er zu dem Haus, hinter dessen Ecke der Mann hervorgekommen war, und klingelte. Nach fünf Minuten hörte er schlurfende Schritte. Gisela Rätzeck riss entsetzt die Augen auf, als sie den Mann mit den wirren Haaren im Bademantel vor der Tür stehen sah. Er wirkte gehetzt.
„Guten Morgen, Frau Rätzeck.“
Die alte Dame lebte allein, sie hatte ihm einmal erzählt, dass ihr Mann schon zehn Jahre tot war. Sie hatte keine Kinder, aber Katzen. Reiner hatte sich bei seinem Einzug bei allen Nachbarn vorgestellt, denn Undine hatte ihn dazu genötigt.
„Ach, Sie sin‘s, Herr Kommissar, ich hon Sie gaa nit erkannt in Ihr‘m Uffzuch. Is was passiert?“
Auch Gisela trug einen Bademantel, allerdings war der bunt geblümt und voller Rüschen. In den weißen Haaren hatte sie Lockenwickler und die Reste einer grünen Creme waren im Gesicht verteilt.
„Ich weiß es nicht. Hatten Sie Besuch?“
„Naa. Wiesu?“
„Ich habe eben jemanden um Ihr Haus herumschleichen sehen. Könnten Sie bitte mal nachschauen, ob etwas fehlt? Ist Ihre Hintertür verschlossen?“
„Komme Se renn, mer kenne zesomme nogugge.“
Reiner folgte ihr an die Tür zum Garten, die Gisela öffnete, um sich dann umzusehen.
„Ah!“, rief sie plötzlich. „Mei alde Goadeschou! Die hon hei gestanne und jetzt senn se fodd.“
„Dachte ich es mir doch. Also waren es wirklich Schuhe unter seinem Arm.“
„Sie honn den gesehn?“
„Ja, als ich im Bad war oder denken Sie, ich besuche meine Nachbarn immer im Bademantel?“
Reiner ärgerte sich, war ihm der Dieb doch tatsächlich durch die Lappen gegangen.
„Ich gehe rüber und ziehe mich an. Laufen Sie hier nicht rum, ich rufe die Spurensicherung.“
„Ach Gott, so en Uffreschung weje dene alde Goadeschuh!“
Reiner lief los. Vor der Tür traf er auf Paul, der ihn komisch ansah.
„Was machen Sie denn in dem Aufzug bei Gisela?“
„Ich bin ihr neuer Liebhaber, was dachten Sie denn?“
Nach einer Tasse Kaffee war Reiner zu Undines Stand gelaufen und begrüßte sie mit einem Kuss. Dann half er ihr, noch ein paar Objekte umzustellen. Undine hatte am ersten Tag schon eine Menge verkauft und nun nochmal Nachschub mitgebracht.
„Ich gehe uns mal was zum Frühstück holen, einverstanden?“
Undine nickte und räumte weiter. Jetzt stutzte sie. Was war eigentlich mit Reiner los? Sie hatte angenommen, dass er noch grollte, weil ihn alle mit dem Schuhdieb unter Druck setzten, doch schien er irgendwie sanftmütiger als gestern zu sein. Was war passiert? Als er mit zwei Kaffeebechern und einer Bäckertüte wieder zurück war, hakte sie vorsichtig nach.
„Wie hast du geschlafen, Schatz?“
„Gut, und du?“
„Auch gut. Es ist auch nichts weggekommen über Nacht.“
„Aha.“
„Ist bei dir auch alles in Ordnung?“
Reiner freute sich insgeheim wie wild, dass Undine bohrte und bohrte, aber er wollte sie noch ein bisschen zappeln lassen, denn dass sie sich zusammen mit Lene schon wieder eingemischt hatte, musste bestraft werden. Außerdem hatte sie ihm noch die ganzen Leute auf den Hals gehetzt.
„Jaja, ich bin auf der Couch eingeschlafen, aber nach dem Duschen ging es wieder mit dem Rücken.“
„Ach, du armer Mann, ich dachte schon sonst was.“
Sie aßen und tranken, grüßten die ersten Marktbesucher, redeten und lachten. Jetzt ließ Reiner die Bombe platzen.
„Ich mach mich dann mal auf den Weg, muss ja noch zu dieser Alina Barolsen und den Tatbestand aufnehmen. Danach will ich nochmal zu meiner Nachbarin. Der wurden heute früh die Gartenschuhe gestohlen.“
„Ach nein, wirklich? Woher weißt du das denn?“
„Ich habe den Dieb gesehen.“
Jetzt klappte Undines der Unterkiefer herunter und Reiner feierte sich für den perfekten Überraschungsangriff. Er lachte und legte einen Arm um seine Freundin.
Als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte, rief sie: „Was für ein Ding! Bist du ihm hinterher? Hast du ihn gestellt? Woher wusstest du, dass …“
„Undine, Undine, bleib locker. Ich habe ihn vom Badfenster aus entdeckt.“
Jetzt berichtete er, wie sein Morgen verlaufen war.
„Ach du je, jetzt denken deine Nachbarn, dass du mich betrügst - ausgerechnet mit Gisela. Das ruiniert unseren Ruf völlig.“
„Ach was, der Paul war einfach neugierig. Soll er ruhig tratschen, wenn er den Gehweg fegt.“
„Wie sah er denn aus?“
„Wer? Paul? Der sah aus wie immer. Jogginghose und …“
„Der Dieb natürlich!“
Reiner lachte.
„Dunkle Jacke mit Kapuze und schwarze Jeans. Ich konnte ihn nicht genauer sehen und als ich rauskam, war er weg.“
„Vielleicht kam dir die Haltung bekannt vor? Oder der Gang? Überleg mal!“
„Ich überlege schon die ganze Zeit, aber ich kenne ja noch nicht alle Nastätter.“
„Das war bestimmt einer von außerhalb! Wir Nastätter sind keine Diebe!“, rief in diesem Moment Jasmin, die mit Zorro vorbeigekommen war und noch einen Stapel Flyer auf den Tisch legte.
„Ich weiß, die Nastätter sind Engel. Guten Morgen, Jasmin.“
Undine nickte.
„Recht hat sie. Wir sind friedlich und klauen keine Schuhe.“
„Würdet ihr es irgendjemandem zutrauen, den ihr kennt?“
Undine und Jasmin sahen sich ratlos an und zuckten gleichzeitig mit den Schultern. Gleichzeitig ging auf Reiners Schulter ein Schlag nieder und als er sich umdrehte, sah er in die Augen von Günther Betzberger.
„Guude! Habt ihr schon gehört?“
„Was?“, fragte Reiner und schüttelte die Hand ab.
„Hier geht ein Dieb um!“
„Aber Günther, woher weißt du das denn schon wieder?“
Günther sah Jasmin hochnäsig an.
„Ich bin immer gut informiert. Ich habe auch gehört, dass die Polizei sich nicht rührt. Das ist wieder mal typisch.“
„Was Sie nicht sagen“, brummte Reiner, „ich bin eben auf dem Weg zu einer Zeugenbefragung. Ich kümmere mich nämlich um den Fall. Und das sogar an meinem freien Tag.“
„Soll ich jetzt applaudieren? Dann mal hopp an die Arbeit! Undine, hast du noch so eine grüne Schale? Ich brauche ein Geschenk.“
Undine zeigte Günther alles, was sie im Angebot hatte, Jasmin zog mit Zorro wieder los und Reiner fühlte sich überflüssig. Als ein paar Meter weiter auch noch der Bürgermeister in sein Blickfeld kam, winkte er Undine zu und lief in Richtung Schule.
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