„Könnte Herr Wenzel einen anderen Handwerker gesehen haben? Einen Elektriker oder einen Tischler, den Sie beauftragten?“, fragte Sabrina Hamm.
„Nein, es gab keinen weiteren Auftrag.“
„Sie sind doch ein städtischer Kindergarten, wäre es denkbar, dass die übergeordnete Behörde jemanden bestellt hat?“, hakte Sabrina Hamm nach.
„Das gibt’s natürlich“, meinte Frau Stein, „aber in der Regel bekomme ich vorher Bescheid. Es ist auch möglich, dass es irgendwie untergegangen ist. Ich habe allerdings auch von keinen bevorstehenden Sanierungs- oder Umbauarbeiten gehört. Das geht eigentlich immer seinen geregelten Gang.“
„Gibt es“, Rotberg korrigierte sich, „gab es in Ihrem Haus eine Videoüberwachung?“
Rose Stein blickte ihn skeptisch an. „Wieso fragen sie das? Stimmt etwas nicht?“
Rotberg überlegte, wie er sich ausdrücken sollte. Er tippte mit dem Zeigefinger in einer abwesenden Geste auf die Unterlippe. „Natürlich stimmt etwas nicht, Frau Stein. Wenn alles gestimmt hätte, wäre es nicht zu dieser Tragödie gekommen.“
Rose Stein hatte die Berichterstattung von ihrem Bett aus im Fernsehen verfolgt. Es war eine Tragödie. Und natürlich hatte der Polizist recht, wäre alles normal gewesen, wäre es nicht geschehen. Vielleicht hatte die Stadtverwaltung doch jemanden beauftragt ohne sie zu informieren oder schlimmer noch, sie hatte es übersehen.
„Nein, es gibt keine Videoüberwachung. Jedenfalls nicht so eine, die etwas aufzeichnet. Wir haben am Tor und an der Eingangstür eine Kamera mit der wir sehen können, wer draußen klingelt. Da die Tür und das Tor tagsüber meistens offen sind, spielt das aber keine Rolle.“ Sie überlegte kurz und zog die Augenbrauen leicht zusammen.
Rotberg merkte an ihrem nachdenklichen Blick, dass sie etwas sagen wollte. Er bemerkte, wie Trauer und Furcht ihr Gesicht besetzten.
„Es ist natürlich möglich, dass die Stadt einen Handwerker geschickt hat. Es ist auch denkbar, dass man vergessen hat, mich darüber zu informieren.“ Sie machte eine Pause: „Und es kann sein, dass ich eine E-Mail erhielt und sie gedankenlos wegklickte, ohne sie gelesen zu haben. Das ist mir ab und zu passiert.“
Sie grübelte und rieb sich mit den Fingerspitzen der rechten Hand die Stirn. Rotberg und Sabrina Hamm warteten ab. Er dachte, dass es wahrscheinlich Zeit sei, aufzuhören.
„Wenn ich etwas übersehen habe, dann weiß ich im Augenblick nicht, was ich anderes getan hätte. Ich hätte einem angemeldeten Handwerker gezeigt, was er tun soll. Ich hätte auch in diesem Fall sicher nicht neben ihm gestanden, um die Arbeit zu kontrollieren.“ Sie sah mit unsicherem Blick zuerst Rotberg und dann Sabrina Hamm in die Augen.
„Frau Stein“, unterbrach er in einem positiven Ton ihre Gedankenkette, „darum geht es auch nicht. Fragen stellen, ist ein Teil unseres Berufes. Ich lebe ebenfalls ständig in der Angst, etwas zu übersehen und einer Person zu schaden. Wir wollten in Ihnen keine Schuldgefühle auszulösen.“
Er stand auf und sah seine Kollegin an: „Gehen wir?“
Er reichte Rose Stein die Hand und legte in einer fürsorglichen Geste die andere Hand auf die ihre. „Frau Stein, versuchen Sie bitte zu schlafen, vielleicht lassen Sie sich ein Schlafmittel geben. Ich lege Ihnen meine Visitenkarte auf den Nachtschrank. Wenn Ihnen etwas einfällt, melden Sie sich einfach, okay? Möglicherweise schauen wir noch mal herein oder wir besuchen Sie zu Hause.“
„Ach, eine Kleinigkeit möchte ich noch wissen“, sagte Sabrina Hamm, „Ihr Mitarbeiter sagte, dass der Handwerker, den er gesehen hat, auffallend korpulent war. War der, mit dem Sie zu tun hatten, korpulent?“
„Nein“, Rose Stein lächelte, „das war ein ganz junger drahtiger Mann. Kein Gramm Fett.“
„Gut, danke – das war’s!“
Bremen, Montag 09. Februar 2009, 18.05 Uhr
Auf der Fahrt zum Präsidium suchte Sabrina Hamm im Internet nach dem Installationsbetrieb. Sie rief dort an. „Mist, Anrufbeantworter!“ Auf der Internetseite des Betriebes fand Sie den vollen Namen des Inhabers und eine Mobilnummer. Sie wählte – beim zweiten Klingelton meldete sich eine ältere Frauenstimme.
„Frau Schreiber? Sind Sie und Ihr Mann Besitzer des Installationsbetriebs Schreiber in Sebaldsbrück?“ Sabrina Hamm lauschte. „Könnte ich Ihren Sohn sprechen?“ Pause. „Okay, vielen Dank.“
Man muss ihr nichts sagen, sie erledigt alles Wichtige sofort, dachte Rotberg. Das mochte er. Sie nahm die beschriebenen Zettel aus der Jackentasche und studierte die Notizen von soeben.
„Herr Jonas Schreiber?“, sie hörte zu und stellte sich vor. Dann fragte sie, ob er bei dem Kindergarten die Wartung durchgeführt habe. Jonas Schreiber kannte den Vorgang, er hatte die Arbeiten aber nicht selbst erledigt – die Rechnung hatte er persönlich geschrieben. Wann es jedoch genau war, musste er erst im Betrieb nachschauen. Sie seien seines Wissens nur einmal vor Ort gewesen. Er sagte, dass er über der Firma wohne und gleich nachsehen würde.
Rotberg sah sie fragend an: „Und?“
„Er sieht in den Unterlagen nach und ruft zurück.“
Beide blieben stumm und sahen auf die Straße. Draußen war es mittlerweile Abend geworden. Der Verkehr lief ruhig. Mit ihr wortlos im Auto zu sitzen strengte nicht an. Es gab Menschen, da hatte man das Gefühl, dass man pausenlos Konversation betreiben müsse, nur um keine Beklemmung aufkommen zu lassen. Es hatte mit Vertrautheit zu tun, wenn man gemeinsames Schweigen aushalten konnte.
Ihr Telefon klingelte. Sie lauschte. „Prima, vielen Dank, Herr Schreiber. Und entschuldigen Sie bitte die Störung.“
„Er hat in den Unterlagen nachgesehen – der Handwerker war nur einmal für die Wartung da. Ohne Folgereparatur. Die Mutter hatte parallel bei dem Gesellen angerufen und sicherheitshalber nachgefragt.“
„Ein aufgeweckter Installateur. Ich glaube, den muss ich mir notieren, falls ich einen Klempner brauche.“ Rotberg lächelte.
„Bei der Stadt erreichen wir wahrscheinlich heute niemanden mehr. Ich kann’s ja mal probieren.“ Sabrina Hamm suchte im Internet nach dem Anschluss. „Anrufbeantworter“, sagte sie mit einem Schulterzucken.
Rotberg dachte, dass so ein Wischtelefon – das war sein Begriff für Smartphones – nicht so übel sei. Er wollte mit seinem Sohn darüber sprechen, was für ihn das Richtige wäre. Jutta hatte ja auch schon daran gedacht, ihm eines zu schenken. Er scheute jedoch die Lernerei für neue technische Geräte. Sein Telefon klingelte in der Jackentasche.
„Rotberg!“ Er lauschte. „Was? Ist was passiert? Wir kommen direkt dort hin.“
„Wir sollen zum Innensenator fahren. Die ganze Mannschaft ist unterwegs, inklusive Polizeipräsident.“
„Das klingt bedeutend. Haben sie dir was gesagt?“, fragte Sabrina Hamm.
„Ich habe kein gutes Gefühl“, sagte er mit einem vagen Tonfall. Er spürte, wie sein Herz bis zum Hals klopfte. „Hoffentlich ist nicht noch etwas geschehen.“
Der Innensenat befand sich in einer schmucken Stadtvilla an der Contrescarpe, der Straße, die entlang des historischen Wallgrabens lief. Der Parkplatz war voller Autos – ungewöhnlich zu dieser Tageszeit. Das Haus war hell beleuchtet. Ein Kamerateam von Radio Bremen lud das Equipment für eine Übertragung aus.
„Da ist bestimmt was durchgesickert“, meinte Rotberg grüblerisch.
„Das kann ohne Bedeutung sein“, antwortete Sabrina Hamm. „Der Senator ist oberster Dienstherr der Polizei und zuständig.“
„Na, wir werden gleich mehr wissen.“ Er hatte deutliche Zweifel in der Stimme.
*
Als beide in das große Besprechungszimmer kamen, lief Wesselmann auf sie zu. „Es ist öffentlich!“, flüsterte er halblaut.
„Was?“, fragte Rotberg. Er begriff nicht.
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