Er sah Sabine an und sagte unschlüssig, sie könnten natürlich auch zu Dritt … , aber bevor er den Satz beenden konnte, winkte Sabine schon mit beiden Händen ab. Sie wollte ihre Chance retten, das Haus ein paar Stunden für sich allein zu haben. Arnold und Benno hatten das nicht anders erwartet; sie nickten und verabredeten sich für Donnerstag.
Sie stiefelten zu zweit in den Wald und kamen zu dritt wieder heraus. Beim alten Schießstand waren sie einem von früher über den Weg gelaufen, einem Grafiker, der sich ebenso wie Arnold wunderte, dass sie erst ins Unterholz gehen mussten, um sich nach all den Jahren wiederzusehen. „Wenn man nur mal die Nase vor die Tür steckt,“ bestätigte Benno, der den Mann nicht kannte.
„Tito Tigges?“ fragte Sabine. Sie erinnerte sich an den Namen. Tigges hatte eine Zeitlang für Arnold gearbeitet. Der Mann galt als Spinner, jedenfalls sagten das Leute, die ihn kannten.
„Er war immer für schräge Einfälle gut,“ räumte Arnold ein, „aber das muss ja kein Schaden sein. Jetzt scheint er ziemlich allein durch die Welt zu laufen. Er kennt ein paar gute Wanderziele.“
Sie gingen nun regelmäßig zu dritt los. Es kam nicht in Frage, sich einem der Rentnertrupps anzuschließen, die sich an den Endhaltestellen versammeln, mit festem Schuhwerk und Frauenüberschuss. Statt dessen holten sie einander ab und fuhren dann zu entlegenen Parkplätzen am Waldrand. Sie marschierten im Räuberzivil über die Feldwege, rätselten, ob auf den abgemähten Äckern Roggen oder Gerste gestanden hatte, unterschieden mit Mühe Schafgarbe und Giersch und sahen zu, dass sie um drei wieder zuhause waren, rechtzeitig für ihr Nachmittags-Nickerchen. Länger als einen halben Tag blieben sie nicht mehr frisch.
Sie verstanden sich gut, es konnte ja immer nur einer reden. Sie erzählten sich gern Geschichten, die mit „es war einmal“ begannen, aber über ihre früheren Heldentaten sprachen sie nur vorsichtig. Sie wussten noch, dass sie manchen Erfolg nur einem glücklichen Zufall verdankten – einer unverhofften Empfehlung oder dem plötzlichen Ausfall eines Konkurrenten. Ebenso zufällig konnt es schiefgehen. Tito konnte ein Lied davon singen und tat es auch: Vier Tage, nachdem er eine ebenso erstklassige wie teure Arbeit abgeliefert hatte, war sein Auftraggeber in Konkurs gegangen. Tito hatte keinen Pfennig gesehen.
Dass es mit dem Georg Hoyer ein böses Ende genommen hatte, wusste jeder von ihnen. Sie setzten sich auf ein paar aufgestapelte Baumstämme und ruhten sich aus.
„Das ist das, was ich meine,“ sagte Tito. „Kein Boden unter den Füßen, nur Hecheln von Auftrag zu Auftrag. Als ob man von Eisscholle zu Eisscholle springt. Wenn du die letzte verpasst, gehst du unter.“
„Oder du lässt dich zum Heilpraktiker umschulen,“ schlug Benno vor.
Sie lachten. Sie erinnerten sich an den Mann – einen Kontakter, der die Vierzig überschritten hatte und in der Werbung keine Zukunft mehr für sich sah. Er hatte den Absprung in eine ganz andere Szene gewagt und „verdiente sich jetzt wieder schlapp.“
Georg Hoyer hatte die letzte Eisscholle verfehlt. „Dass er deshalb Schluss machen musste. Und dann so.“
„Na ja,“ meinte Tito. „Wenigstens ist er sauber gegangen.“ Er hatte einmal einen Jungen gekannt, der verschwand eines Tages und man fand ihn nicht mehr. Jahre später spazierte ein Pärchen in den Wald und legte sich unter einem Baum ins Laub. Als das Mädchen hoch blickte, sah es den Jungen hängen, ein Skelett in der Seppelhose.
„Auch damals wusste niemand, warum.“ Ihm fiel noch etwas ein: „Hatte der Wagen eigentlich keinen Katalysator? Der hätte das doch verhindern müssen.“
„Aber wenn der Hoyer das nicht wusste?“
Sie quittierten Bennos absurden Einwurf mit einem Knurren, gemischt aus Protest und Belustigung.
„Hör schon auf,“ sagte Arnold. Es wurde Zeit, von Annes Besuch zu berichten, von Hoyers Exposé und seiner Idee für Haruspex.
„Haruspex?“ fragte Benno.
„Steht im Lexikon, du kannst es auch googeln. Römische Priester, die aus den Eingeweiden toter Tiere die Zukunft herauslasen.“
„Oh je.“ Für Benno war das zu weit weg.
„Ich habe früher gern Zukunftsromane gelesen,“ sagte Tito.
„Science Fiction, ja, das habe ich zuerst auch gedacht,“ gab Arnold zu, „aber das hier ist etwas anderes.“
„In den Zeitungen steht doch schon genug,“ sagte Benno. „Neulich erst ein Artikel über Gewächshäuser auf dem Mars.“
„Das stimmt, aber Hoyer schreibt, es gäbe genug Leute, die mit solchen Häppchen nicht zufrieden sind, die wollen tiefer eintauchen.“
Tito räumte das ein: „Das ist nicht ausgeschlossen, so eine Art Flucht aus der Gegenwart.“
„Es muss nicht mal Flucht sein. Es gibt immer Leute, die anderen etwas voraus haben wollen. In Haruspex würden sie Dinge lesen, über die noch niemand Bescheid weiß – in der Zukunft war ja noch niemand. Es wäre das erste Magazin, das ausnahmslos allen Lesern etwas Neues anbietet.“
„Ob sich das verkauft?“ wiederholte Benno Wittfeld. „Kommt dein Freund Hoyer nicht ein bisschen spät? Die Zeitschriften gehen doch jetzt schon am Stock – kaum noch Anzeigen und die jungen Leute spielen lieber auf ihren Smartphones herum.“
„Ja, die jungen Leute,“ antwortete Arnold, „aber der Hoyer war schon vierunddreißig.“
„Nicht alt genug, um sich umzubringen. Und Haruspex ist ein völlig abgedrehter Titel. Klingt nach Werkzeugmaschinen-Export.“
„Jedenfalls ist er merkfähig,“ beharrte Arnold. „Er hat einen Widerhaken.“ Ihm war, als müsse er ihnen das Haruspex-Konzept verkaufen, seiner Besucherin Anne zuliebe. Er blieb beim Thema:
„Er schlägt ‚Sieben Leben von morgen’ vor. Das fängt mit Küchenrobotern an und hört mit neuen Göttern auf. Interessant ist sein Prognose-Schema. Er teilt die Zukunft ein in ‚ziemlich sicher’, ‚möglich’ und ‚unwahrscheinlich’.“
„Was meint er denn mit ‚ziemlich sicher’? Dass es im nächsten Winter schneit?“
„Mit Wettervorhersagen gibt er sich nicht ab.“ Arnold korrigierte sich: „Hat er sich nicht abgegeben. Nein, er sagt zum Beispiel die Rückkehr der Schreibmaschine voraus, weil die Leute fürchten, dass ihr Computer überwacht wird. Er meint auch, dass Trinkwasser bald so viel kostet wie Burgunder.“
Die Vorstellung gefiel ihnen nicht, das konnte man sehen. Arnold schob nach: „Unter der Rubrik ‚möglich’ notiert er übrigens ‚Flüssigfleisch’.“
„Ist ja widerlich.“ Benno verzog das Gesicht. Er bezweifelte, dass man genügend Stoff sammeln könne, um Monat für Monat ein interessantes Heft zu produzieren. Auch Tito schüttelte den Kopf. Arnold konnte seine Wanderfreunde nicht überzeugen; sie wollten sich mit dem Blödsinn nicht weiter abgeben.
„Ob wir drei alten Knacker uns noch groß mit der Zukunft befassen müssen?“
Sie einigten sich darauf, der arme Hoyer hätte da eine Schnapsidee gehabt. Ein krankes Hirn. Kein Wunder, dass er sich umgebracht hatte.
Durch die Bäume hindurch sahen sie, wie sich im Westen der Himmel verdunkelte. Aus einem Stoppelacker am Waldrand flatterte eine Kolonie von Tauben hoch. Die Vögel sammelten sich über dem freiem Feld zum Schwarm, wurden mit einem Schwenk gegen das Licht unsichtbar, zeichneten sich dann plötzlich hell gegen die dunklen Wolken ab. Tito zog seine Schiebermütze tiefer in die Stirn – es wurde Zeit, zu gehen.
Sie erhoben sich ächzend von ihrem Holzstapel und machten sich auf den Rückweg. Sie beeilten sich, gerieten dennoch in einen Schauer und konnten sich gerade noch in einer Waldhütte unterstellen. Nach zwanzig Minuten ließ der Regen nach; sie kehrten zu ihrem Parkplatz zurück. Plötzlich roch es nach Fäulnis; sie traten vorsichtig auf, um auf dem nassen Laub nicht auszurutschen.
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