Sie legte den Kopf leicht zur Seite und beobachtete ihn.
„Verstehen Sie? Zum Beispiel im Wohnungsmarkt. Häuser an Durchgangsstraßen werden bald wieder interessanter.“
„Warum?“ wollte Korff wissen.
Sie freute sich über die Frage: „Weil der Verkehr leiser wird. Viel leiser, weil die Autos elektrisch fahren.“
„Interessant,“ sagte Arnold Korff. „Interessant.“ Nach einer nachdenklichen Pause: „Es gibt bestimmt eine ganze Reihe von Leuten, die sich gern mit der Zukunft beschäftigen. Manchmal sieht man so was auch im Fernsehen. Man müsste nur aufpassen, dass man nicht in die Science Fiction abrutscht.“
„Nein.“ Anne Hoyer war fest überzeugt. „Ich glaube nicht, dass da etwas abrutscht. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich das einmal anschauen und mir sagen, was Sie davon halten. Es kann doch nicht sein, dass Georg sich derart verrannt hat.“
„Vielleicht hat er sich an den falschen Adressaten gewandt. Vielleicht ist eine Zeitschrift das falsche Medium. Ich fürchte, so was findet heute meistens im Internet statt; aber natürlich gibt es noch Ausnahmen. Ich werde mir das gern ansehen. Haruspex ist jedenfalls ein merkwürdiger Titel. Damit sind die alten Weissager gemeint, aus der Antike, nicht wahr?“
Anne nickte. „Die Priester im alten Rom.“ Sie lächelte jetzt. „Georg mit seinem Latein-Abitur. Er konnte es manchmal übertreiben.“
„Und wie geht es Ihnen jetzt?“ wollte Arnold beim Abschied wissen. „Kommen Sie zurecht? Im neuen Job, meine ich?“
Anne meinte, der wäre schon o.k., die Kollegen im Büro seien nett, aber das freie Arbeiten gegen die tägliche Routine einzutauschen, das sei ihr schwer gefallen.
„Ja,“ sagte Korff zögernd, „die große Freiheit.“ Er dachte an die uferlosen Arbeitszeiten, die Nächte an der Schreibmaschine, die Mittagspausen, in denen ein schneller Joghurt und ein belegtes Brötchen genügen mussten. Er erinnerte sich auch an die Telefonate mit seiner Frau, wenn es wieder später wurde.
In der Diele war der Bratenduft aus Frau Korffs Küche zu wittern.
„Gulasch,“ verriet Korff lächelnd. Er habe sich über Annes Besuch sehr gefreut und wolle das Exposé gern durchlesen; er würde sich melden.
2 / Drei Helden von früher
Nach Auflösung seiner Agentur hatte Arnold Korff seinem Leben einen Dreh gegeben, auf den seine Frau Sabine nicht vorbereitet war. Sie hatte sich die gemeinsame Zukunft anders vorgestellt, an schöne Reisen, an Wellness-Hotels und Freiluftfestivals gedacht. Jetzt hatten sie doch genügend Zeit dafür. Sabine kannte genügend Ruheständler, die wochenlang unterwegs waren, von jedem Terminkorsett befreit.
Die baltischen Staaten wurden jetzt gern genommen, und ein paar Tage Florenz mussten eigentlich auch für die Korffs möglich sein. Sabines Reiselust meldete sich zuverlässig, wenn sie in der Küche zugange war, wenn sie Töpfe und Pfannen aus dem Schrank geholt, Zutaten bereitgestellt und Zeit hatte. Sie konnte sich zwar ein Buch vornehmen, aber die Lektüre blieb Stückwerk: Immer wieder musste gerührt, abgeschmeckt, nachgewürzt werden. Sie hätte die lebenslang geübten Handgriffe gern wieder mal dem Koch eines österreichischen Berghotels oder einer Trattoria in Perugia überlassen.
Aber ihr Arnold war für große Expeditionen nicht mehr zu haben; er war genug gereist. Außerdem waren die Hoteladressen, die er spaßeshalber im Internet ausprobierte, samt und sonders auf Monate ausgebucht. Das sei die eigentliche Erfindung der Ferienindustrie, nörgelte er: Das ausverkaufte Ziel. Die Untugend der Leute, ihr Hotel ein Jahr im voraus zu buchen, hätte mit Reisen nichts mehr zu tun, es sei eher eine Art Umbettung im Abonnement. Ob Sabine sich nicht an den schlimmen Juli am Gardasee erinnere. Sie waren vor Jahren auf gut Glück hingereist und mussten meilenweit ins Hinterland fahren, um überhaupt noch ein Bett zu finden.
Arnold fand aus seiner eigenen Postleitzahl nicht mehr heraus; da war nichts zu machen. Sabine bekam ihn nur zu Ausflügen vor die Tür, deren Ziele in ein oder anderthalb Stunden zu erreichen waren, eigentlich waren es nur längere Spaziergänge. Die Parks gehörten dazu, die Uferwege am Rhein und auch die Friedhöfe, auf denen sie jetzt immer mehr alte Bekannte entdeckten. Man sei an der frischen Luft und hätte obendrein was zu lesen, sagte Arnold, das sei doch schön.
Er blieb gern bei ihr im Haus. Er mochte das Haus; sie hatten es in dreißig Jahren kaum verändert. In der Diele hing nach wie vor das Poster vom Italian Film Festival und erinnerte an einen Museumsshop in Paris. Die Lampen über dem Küchentisch – an dem sie bequem acht Gäste bewirten konnten – waren ein Glücksgriff aus den Achtzigern; immer noch tauchten sie alles, was auf die blank gescheuerten Bretter kam, in ihr warmes Licht.
Abends setzten sie sich mit einem Glas Rotwein auf die Terrasse, ließen die Sonne untergehen und sprachen sich aus. Sogar Arnold konnte dann besinnlich werden: „Weißt du was? Ich finde es so beruhigend, wenn ich nachts höre, wie friedlich du neben mir atmest.“ Sie wusste nicht genau, was sie davon halten sollte, jedenfalls wich er ihr Tag und Nacht nicht mehr von der Seite. Als ob er wettmachen wollte, was er zuvor versäumt hatte.
Das Familienleben der Korffs war von Arnolds Beruf arg gerupft worden. Es hatte Jahre gegeben, in denen er wochenlang spät in der Nacht nach Hause kam; mehr als einmal gab es am Frühstückstisch bittere Worte und unglückliche Gesichter. Die Agentur sei in einer sehr angestrengten Phase, versuchte Arnold zu beruhigen, bald würde es besser.
Er war dann doch erschrocken, als einer seiner Kunden, ein Aufsteiger kurz vor dem Chefsessel, ein harter Hund, ihm mitten in der Besprechung etwas vorheulte: Just an diesem Vormittag war ihm seine Frau weggelaufen; sie hatte die einsamen Abende nicht mehr ertragen. Arnold konnte nur mitfühlend dreinschauen. In diesem Moment wusste er nicht, was er sagen sollte, aber am nächsten Tag verschob er die Herchenberg-Präsentation und ordnete auf Biegen und Brechen seinen Terminkalender neu. Er blieb auch bekehrt, als er später hörte, so einsam seien die Abende der abtrünnigen Gattin durchaus nicht gewesen, vielmehr hätte sie im Schwimmbad ihrer Wohnanlage zu oft diesen Innenarchitekten getroffen. Eigentlich lief es ja auf dasselbe hinaus.
Jedenfalls hatte Sabine ihren Arnie jetzt den ganzen Tag an der Hacke; das war sie nicht gewohnt. Er saß in jedem Zimmer, er las seine Zeitung in der Küche rauf und runter, er begleitete sie zum Einkauf, nicht nur am Wochenende. Deshalb war sie begeistert, als zu Herbstbeginn Arnolds alter Freund – sein bester Freund – Benno Wittfeld abends vorbeischaute und einen gescheiten Vorschlag machte.
Sie mochte Benno. Sie wusste, dass Arnold und Benno sich als Lehrlinge in derselben Firma verbündet hatten („wie Rodgers and Hammerstein“). Glückliche Tage mussten das gewesen sein – junge Tage, als sie über Jack Teagarden sprachen statt über Vertriebswege und Marktanteile.
Als sie später in unterschiedlichen Himmelsrichtungen – und unterschiedlichen Geschäften – unterwegs waren, blieb die Freundschaft auf Standby, und sie sprang sofort an, als Benno wieder in der Stadt auftauchte. Es war schön für Arnold, den Kerl wieder in der Nähe zu haben, da gab es viel zu erinnern, viel zu streiten und viel zu lachen.
Benno kam, als Arnold gerade das Geschirr abgeräumt hatte, setzte sich zu ihnen an den Tisch und pries die Eintracht, in der die beiden nebeneinander saßen („ein Bild, das über jedes Kinderbett passen würde“). Er fragte, ob sie neuerdings auf den Friedhöfen etwas Aufregendes entdeckt hätten, und kam dann zum Thema. Sein Arzt hatte ihm viel Bewegung empfohlen, wegen des Blutdrucks und überhaupt. Überhaupt – das meinte: Man durfte die Pantoffeln gar nicht erst anziehen; wer sich wie ein alter Mann aufführte, wurde auch einer. Wandern wäre eine gute Idee, für ihn und Arnold. Jetzt bekämen die Bäume draußen allmählich Farbe („der große Maler geht durch den Wald“), das sei eine gute Zeit für die Wälder der Umgebung – doch, es gäbe noch welche.
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