Die Heldin Ella wird, ohne sie explizit zu beschreiben, allein durch ihren Beruf als Notärztin und ihre konzentrierte, knappe Art, in einer Notsituation zu sprechen, dem Leser deutlich vor Augen geführt. Sie wirkt sofort sympathisch. Vor allem aber wirkt sie wie eine Frau, die als Heldin den lebensbedrohlichen Anforderungen eines Thriller-Plots gewachsen sein könnte. Obwohl wir als Leser ahnen, dass sie weit Extremeres durchmachen wird als einen an sich schon fordernden Einsatz am Unfallort, der hier natürlich der Schauplatz eines Verbrechens ist.
Seien Sie sich bewusst, dass Sie am Anfang Ihres Romans auf der ersten Seite schon Ton und zu einem gewissen Maß auch das Tempo vorgeben, die der Leser dann auch im Rest des Romans zu finden erwartet. Bei C. C. Fischers Roman » Erlösung « erwarten wir nichts weniger als einen schnellen, packenden Thriller.
Der Einstieg über langwierige Beschreibungen und Info-Dumps ist auch unter diesem Aspekt problematisch: Beides lässt den Leser ähnliche Langatmigkeit für den Rest des Romans erwarten. Ob zu Recht oder zu Unrecht, spielt keine Rolle, denn bis es eine Rolle spielen könnte, hat der Leser den Roman womöglich schon zur Seite gelegt.
Ich empfehle Ihnen daher, selbst wenn Ihr Roman eher eine ruhigere Geschichte erzählt, nicht allzu behäbig anzufangen, sondern zumindest anzudeuten, das auch Ihre ruhige Geschichte durchaus Spannendes, ja, Aufregendes zu bieten hat.
Wie bei einem gelungenen Menü sollte bereits der Gruß aus der Küche erahnen lassen, welche Gaumenfreuden auf den Gast zukommen. Und wie der Gruß aus der Küche ein eigenes Gericht ist, sollten Sie auch den Anfang Ihres Romans als eigene Geschichte auffassen, durchaus mit Spannungs- und Chrakterbogen (was übrigens auch für jede Ihrer dramatischen Szenen gilt).
Wenn Sie sehen, welche Bedeutung der Anfang für Ihr Buch haben wird, ergibt das Sinn: In Leseproben, vielleicht auf Lesungen, womöglich in Vorabdrucken, ganz sicher bei Agenten und Verlagen und in der Hand des Lesers im Buchladen wird diesem Anfang die Aufgabe zukommen, Ihren Roman zu verkaufen – nicht dem tollen 17. Kapitel und auch nicht der herzergreifenden Sterbeszene am Ende des 2. Akts, nein Ihrem Romananfang. Dementsprechend werden Sie auch keinen anderen Teil Ihres Romans so oft überarbeiten. Und das ist gut so. Was hieß noch gleich NAW? Richtig: Nehmen Sie den Anfang wichtig!
[Meinen Dank an Henny, Jasmin und Sabine, durch deren wertvolle Kommentare im Blog ich diesen Artikel weiter vertiefen konnte.]
Informationsüberflutung des Lesers
Dazu fällt mir noch folgende Geschichte ein …
Wir finden ihn am Anfang von Fantasy-Romanen, auch in historischen Romanen erwartet er schon die arglosen Leser. Science-Fiction-Freunde sind vor ihm ebenso wenig sicher wie die Leser anspruchsvoller Literatur – kurz: Er lauert überall, wo Papier zwischen zwei Buchdeckeln steckt oder E-Ink hinter einer Plexiglasscheibe.
Der Info-Dump.
Was auf Deutsch nichts anderes heißt als: eine ganze Kippe voll mit Informationsmüll. Manche Autoren schütten ihren Lesern einen Haufen davon vor die Füße, nach dem Motto: »Da, habt ihr, sucht euch raus, was ihr brauchen könnt. Und wenn ihr fertig seid, legen wir mit der Geschichte los.«
Statt in die Geschichte einzusteigen, wird erst einmal um den heißen Brei herumgeschlichen. Ach ja, da fällt mir noch das ein. Und geschlichen ... Und dann müsst ihr noch das wissen. Und geschlichen ... Und wenn es dann losgeht, ist der Brei kalt und der Leser vergrätzt. Und greift hungrig zur nächsten Schüssel. Der von einem besseren Koch.
In einigen Genres wird naturgemäß mehr Müll ausgekippt. Leser von Fantasy und SF, aber auch solche von historischen Romanen sind es gewöhnt, sich erst durch viele Seiten hindurchzuwühlen, bis es mit der Geschichte losgeht. »W orld building «, Weltenbau nennt man das so schön. Nicht wenige genießen dieses ganze Drumherum sogar, für sie sind die kleinen Anekdötchen am Rande, die wenig bis nichts mit der eigentlichen Handlung zu tun haben, nicht das Haar, sondern das Salz in der Suppe. Oder die Suppe selbst. Oder, um im Bild zu bleiben: der heiße Brei. Den sie gerne auch kalt genießen, denn bei dem ganzen Drumherumgeschwätz bleibt selbst der heißeste Brei nicht warm.
Zugegeben: Das Wort Müll ist in vielen Roman unangebracht. Oft sind die Informationen nett und lesenswert aufbereitet. Vielleicht ist gerade das das Problem. Wäre die Informationen tatsächlich Müll, würden die meisten Autoren und spätestens ihre Lektoren das merken und den Müll trennen vom Rest des Romans. Schöne und gelungene Stellen streicht man aber nicht so gerne. Oft geht es auch gar nicht ums Streichen. Sondern ums Verlagern der Information dorthin, wo sie notwendig ist oder ihre dramaturgisch größte Wirkung erzielt.
Schreiben ist eben nicht nur die richtigen Worte finden, sondern diese auch an den richtigen Stellen zu platzieren.
Wer hat den Prolog etwa von » Der Herr der Ringe « wirklich genossen? Und wer, um aktuell zu bleiben, braucht wirklich schon zu Anfang all die netten, kleinen Histörchen und Informationen über die phantastische Welt, die Andreas Gößling in seinem Fantasy-Roman » Der Ruf der Schlange « (Klett-Cotta 2010) zu Beginn vor dem Leser ausbreitet? Nach dem dramatischen Prolog wird erst einmal der Held beschrieben – und so ziemlich alles andere auch.
Das 1. Kapitel beginnt so:
Auf dem Schindanger vor dem Schiffstor von Phora baute ein bakusischer Zirkus seine Zelte auf und damit begannen Samu Rabovs Probleme. Jedenfalls sollte er auch später noch hartnäckig an dieser Version festhalten.
In Wahrheit hatten seine – und keineswegs nur seine – Schwierigkeiten lange vorher angefangen. Jahre zuvor, an einem von Schlingpflanzen mit fleischigen Blättern und tiefgründigen Blüten (schorfroten, mitternachtsblauen) überwucherten Ort im zarketumesischen Nebelwald, dessen Name Rabov damals nicht einmal hätte buchstabieren können.
Naxoda. Gesprochen, unterwarteterweise: Nachkodá.
Es war ein Spätsommertag im Jahr 713 neuer Zeit. Die Einwohner von Phora, Hauptstadt des Vereinigten Dinubischen Königreichs, dämmerten oder delirierten in der drückenden Schwüle, je nach Herkunft und Temperament. Auch Samu Rabov hatte gerade erst seinen Frühstückstee geschlürft …
Nach einem einzigen Absatz verlässt der Autor die Erzählgegenwart und nimmt den Leser, der noch nicht an dem neuen Ort, Phora, angekommen ist, gleich wieder mit in eine andere Zeit, an einen anderen Ort.
Anschließend wird der Leser über die Magie vor Ort aufgeklärt und über Rabovs Arbeit als Ermittler. Danach berichtet der Autor über Rabovs Ex-Geliebte, anschließend über die gestrige Begegnung mit einer Hellseherin, um dann noch tiefer in die Vergangenheit zu gehen und über die Zeitenwende und das Klima zu berichten.
Rabov sitzt derweil noch immer beim Frühstück. Nach einigen weiteren Gedanken über Magie, seinen Laden und seine Ex-Geliebte steht Rabov auf und geht vor die Tür.
Dort erinnert er sich sogleich an eine Begebenheit mit einem böswilligen Verwandlungsmagier, der ihm sein Ladenschild verändert hat. Dann ist das 1. Kapitel zu Ende.
Passiert ist gar nichts.
Im 2. Kapitel läuft Rabov durch die Stadt, erinnert sich an dies und an jenes, denkt nach über seine Nachbarn, über die Stadt, über seine Karriere. Am Ende des 2. Kapitels trifft er oben erwähnten Verwandlungsmagier. Das ist das erste Ereignis in der Erzählgegenwart. Dann dauert es jedoch noch das komplette, mehrere Seiten lange 3. Kapitel, um eine einzige kleine Information rüberzubringen.
Das ist alles keineswegs schlecht und steckt voller liebenswerter Details. Der Trott wird manchem Leser gefallen, der gerne durch die Auslagen mit Beschreibungen und Anekdoten schlendert. Aber ist es gut genug, viele Leser für den Roman zu begeistern? Ist es gar optimal?
Читать дальше