Bei Silke war das ganz offensichtlich anders. Natürlich. Wie so viele Verwandelte hatte sie als Mensch eine Existenz gehabt, eine Familie vielleicht, einen Job, Alltag, Sicherheit. All das lag jetzt in Trümmern. Nicht jeder kam damit klar. Ben hoffte inständig, dass es ihr in der Anderswelt besser gehen würde - immerhin ohne die ständige Angst festgenommen oder vermöbelt zu werden. Aber wie konnte er da sicher sein? Ein Hort des Friedens war die Anderswelt nämlich auch nicht gerade.
„Alles im grünen Bereich bei euch, Alter?“, fragte Maus.
„Jep. So grün, wie es eben sein kann. Mal den Umstand beiseitegelassen, dass es dort keine Computer und Burgertempel gibt, würde dir Galandwyn gefallen. Geysbin glaubt allerdings, dass uns Sardrowain nicht mehr lange in Ruhe lassen wird. Er hat den Osten der Anderswelt erobert und wird wohl gerade etwas übermütig. Vermutlich nervt ihn auch, dass er keinen direkten Draht mehr zu den Menschen hat.“
Ben sah in Maus‘ grinsendes Gesicht. Dass van den Berg, der zweitausend Jahre alte Druidenhäuptling, nicht mehr existierte, war immerhin etwas, das sie erreicht hatten. Ein Stachel im Fleisch des Despoten, wenn man so wollte. Klar, dass ihn das ärgerte.
„Wir müssen gehen“, sagte Ben und sah dabei die beiden Verwandelten auffordernd an. „Der Übergang darf nicht lange offenbleiben. So eindrucksvoll er als Lichtspektakel auch ist. Besser wir sind durch, bevor ihn jemand entdeckt. Das gilt übrigens für beide Welten.
Die Mutigere der beiden Verwandelten nickte, packte Silke an der Hand und trat neben Ben.
„Wir sehen uns“, sagte Maus. „Liebe Grüße an die anderen Kinder!“, fügte Viktoria hinzu. „Und feiert nicht zu viel!“
Ben winkte, dann wandte er sich dem Übergang zu. Augenblicke später waren er und die beiden Frauen darin verschwunden.
Auf der anderen Seite wurden sie auf direktem Weg in die Hölle gespuckt. Nichts, aber auch gar nichts hatte Ben darauf vorbereitet. Als Gintwain nur Minuten vorher den Übergang für ihn geöffnet hatte, war es hier noch so ruhig gewesen wie in der Kaffeeküche einer Seniorenresidenz. Etwa hundert Alben, darunter auch eine Gruppe Verwandelter, hatten im Licht der Dämmerung den Übergang gesichert, hatten sich hinter den schulterhohen Wällen positioniert, die vor ein paar Wochen hier aufgeschüttet worden waren. Oder auf einem der erhöhten Schießstände, die im Abstand von zwanzig Metern rund um den Übergang angelegt waren – mit Ausnahme der Südseite. Die musste nicht geschützt werden, weil das Dickicht aus meterdicken Bäumen und stacheligen Büschen hier undurchdringbar war. Aber verflucht! Was heißt hier schon sichern? Niemand hatte ernsthaft mit einem Angriff gerechnet. Sardrowains Truppen waren weit weg. Jedenfalls hatte das Ben geglaubt. Bis zu dem Moment, in dem sich Ben und seine beiden Begleiterinnen mitten in der Hölle materialisiert hatten. Bolzen flogen, schnitten sirrend durch die Luft, töteten. Männer und Frauen schrien, gingen verletzt zu Boden, zerbarsten zu Staub. Bens Wahrnehmung schaltete augenblicklich auf Zeitlupe, so wie sie es immer tat, wenn es gefährlich wurde. Und verdammt noch mal: Das hier war gefährlich! Ben sah, dass die Soldaten San‘tweynas gerade die Wälle überrannten, die Kriegerinnen und Krieger Galandwyns reihenweise mit Schwertern oder Speeren niedermachten. Und sie stürmten geradewegs auf den Übergang zu – auf ihn und die beiden Frauen. Wieder surrten Armbrustbolzen. Auch, wenn die meisten rennend abgefeuert wurden und deshalb schlecht gezielt waren: Ihre schiere Masse machte es nur zu einer Frage der Zeit, bis einer von ihnen treffen würde. Ben streckte die Arme aus und ließ die Kraft des Lichts aus seinem Körper fluten.
„Bleibt dicht hinter mir!“, rief er den beiden Frauen zu und erkannte im Augenwinkel, wie die Mutigere Silke packte und in seinen Windschatten zerrte. Ein flimmernder, durchsichtiger Schirm spannte sich vor Ben auf. Bolzen prallten dagegen, glitten davon ab, fuhren berstend in den Boden. Er spürte die Wucht jedes einzelnen Schlags. Jedes Mal, wenn er einen der vielen sicheren Treffer abwehrte, fraß es etwas von seiner Kraft auf.
Eine der Verwandelten kreischte hysterisch auf. Ben sah nicht, was hinter ihm passierte, aber er ahnte, dass es Silke war und dass sie die Nerven nun völlig verloren hatte. Scheiße. Lange würde das nicht gut gehen.
„Nicht, Silke!“, schrie die andere Verwandelte. „Du bleibst bei mir! Hörst du?“
Eine Gestalt löste sich aus dem wabernden Schutzschild, den Ben allzu hektisch aufgebaut hatte. Er dachte daran, den Schild zu erweitern, die Verwandelte mit seiner Kraft irgendwie wieder einzufangen. Aber das schaffte er nicht.
Es war zu spät. Ein Bolzen fuhr Silke durch die Schulter, hinterließ eine klaffende Wunde. Einen kurzen Moment blieb sie verblüfft stehen. Dann beendete ein weiterer Treffer in den Kopf ihre Flucht vollends. Silke zerfiel zu silbernem Staub.
Es gab signifikant viele Dinge, wegen der Kristin hätte verblüfft sein müssen: die albischen Soldaten in den seltsamen mittelalterlichen Uniformen. Die Tatsache, dass diese wie verrückt auf sie schossen und losstürmten. Der unsichtbare Schutzschirm, den der nette Typ namens Ben herbeigezaubert hatte. Silkes Verwandlung in einen Haufen Silberstaub. Am meisten verblüffte Kristin allerdings, dass sie dabei einigermaßen cool blieb. Sie nahm hin, was da passierte. Es war nicht so, dass es ihr egal war. Sie hatte absolut keine Lust, zu sterben. Immer noch nicht. Aber auf eine seltsame Weise empfand sie den ganzen Wahnsinn, der gerade um sie herum tobte, als passend. Wenn schon Fabelwesen, dann mit aller Konsequenz. Was hatte sie erwartet? Dass ein Zollbeamter freundlich auf sie zukam, ihren Pass verlangte und sie auf die Einreisebestimmungen in die Anderswelt hinwies?
Aber war das alles auch echt? Oder hatte sie vielleicht nur zu viel von der roten Blubberwolke eingeatmet, die in diesem komischen Portal waberte, das sich in den Isarauen geöffnet hatte?
„Bleib dicht hinter mir, ...! Wie heißt du eigentlich?“, fragte Ben. Er sagte das so ruhig wie möglich. Kristin merkte ihm allerdings an, dass es ihn unheimlich viel Kraft kostete, diesen Schutzschild aufrechtzuerhalten. Ständig prasselten kleine Pfeile auf ihn ein. Und dann rannten auch noch Soldaten mit Schwertern und Spießen auf sie zu.
„Kristin“, antwortete sie. „Pass auf den da mit dem Überbiss auf!“
Mit beinahe fanatischem Blick stürmte der Kerl auf sie zu, mit einem Spieß in den Händen, der direkt auf sie zielte. Ben sah ihn, machte mit der rechten Hand eine Wischbewegung. Im gleichen Moment traf den Soldaten so etwas wie ein unsichtbarer Schlag, der seinen Angriff mit Wucht stoppte und ihn zur Seite warf.
„Treffer“, entfuhr es Kristin. Was sagte sie da eigentlich? Da war kein Spiel. Menschen starben. Oder eigentlich Alben.
„Ja“, sagte Ben. „Nur leider wird das nicht mehr lange gut gehen. Kannst du erkennen, ob der Übergang noch offen ist? Ich schätze, bei Maus und Viktoria ist es jetzt gerade etwas sicherer.“
Kristin sah sich um. „Der ist weg.“
„Scheiße“, fluchte Ben und warf mit seiner unsichtbaren Kraft zwei weitere Angreifer aus den Latschen. Dabei stöhnte er allerdings so laut, dass Kristin nicht davon ausging, dass er das mit allen so würde machen können, die gerade nach ihrem Leben trachteten. Und nun hatte auch sie richtig Angst. Das hier würde kein gutes Ende nehmen. Vielleicht wäre sie in einem deutschen Untersuchungsgefängnis doch besser aufgehoben gewesen.
Dann aber kam die „Kavallerie“. Und wieder wunderte sich Kristin, dass sie nicht ansatzweise so verblüfft war, wie sie es hätte sein müssen. Denn die „Kavallerie“ war eine wilde Horde von Ungeheuern. Diese Kreaturen liefen zwar aufrecht auf zwei Beinen, allerdings hatten sie wuchtige Körper und Tierköpfe. Und keine Kreatur sah so aus wie die andere. Kristin kam es so vor, als hätte man die Einzelteile von Stieren, Pferden, Bären, Böcken und eben Menschen durcheinandergewürfelt und neu kombiniert. Minotaurus meets das Biest und wer weiß noch was. Das war unglaublich. Und es rettet ihnen das Leben. Denn die wilde Horde drängte die Angreifer innerhalb von Minuten zurück - zumindest diejenigen, die nicht von Knüppeln, Äxten oder Breitschwertern niedergemacht wurden. Wenige Minuten später war das Gemetzel vorbei - so plötzlich, wie es begonnen hatte.
Читать дальше